Tabu: Roman (German Edition)
Eingeklemmt zwischen der Mechanik, saß ein Mensch, er spielte die Partien. Das Besondere war aber gar nicht der Schachtürke. Das Außergewöhnliche war Wolfgang von Kempelen selbst. Er war kein Betrüger. Er war ein begabter Wissenschaftler, ein gebildeter Mensch und hoher Beamter. Er leitete die österreichische Salzgewinnung im Banat. Er verfasste Theaterstücke und stach Landschaftsbilder. Später erfand er eine Schreibmaschine für Blinde und einen Apparat, der ganze Sätze sprechen konnte. Während immer neue Theorien aufgestellt wurden, wie der Schachautomat funktioniere, sagte Kempelen jedem offen, dass er auf Täuschung beruhe. Nur: Niemand wollte das hören.«
Eschburg legte das Blatt auf den Tisch. Er sah seine Richter direkt an. Dann setzte er sich wieder.
Biegler überreichte dem Vorsitzenden den Text.
»Ist das Ihre Erklärung?«, fragte der Vorsitzende Eschburg. Seine Stimme klang ein wenig heiser.
»Ja«, sagte Eschburg.
»Auch Ihre Unterschrift?«
Eschburg nickte.
»Dann nehmen wir die Erklärung zum Protokoll der Hauptverhandlung.« Der Vorsitzende gab das Blatt der Protokollführerin. Er wandte sich an Eschburg: »Was ich jetzt sage, habe ich nicht mit der Kammer besprochen. Ich möchte trotzdem, dass Sie es wissen: Ich verstehe Sie nicht. Sie stehen hier unter Mordanklage. Sie waren über vier Monate in Untersuchungshaft und jetzt erzählen Sie uns etwas von einem Schachtürken ?«
»Ich habe bereits gesagt, dass mein Mandant keine Fragen beantworten wird«, sagte Biegler, ohne seine Haltung zu verändern und ohne die Augen zu öffnen. »Vielleicht wäre es hilfreich, wenn Sie ein wenig über die Erklärung nachdenken würden.«
Landau sah wütend aus. »Das ist doch keine sinnvolle Einlassung zur Anklage«, sagte sie.
»Doch, das ist es«, antwortete Biegler und öffnete die Augen. »Und wenn ich noch einen Satz hinzufügen darf: Unser Ausdruck getürkt stammt von diesem Schachtürken.«
Der Vorsitzende hob die Hand. Er sah Eschburg wieder an. »Sie haben einen erfahrenen Verteidiger, Herr von Eschburg. Sie haben sich sicher mit ihm beraten. Trotzdem verstehe ich nicht, was Sie sagen.« Der Vorsitzende wartete eine Weile. Eschburg reagierte nicht. Der Vorsitzende zuckte mit den Schultern und wandte sich an Biegler. »Es bleibt also dabei, keine Fragen an den Angeklagten?«
»Dabei bleibt es«, sagte Biegler.
»Gibt es sonst noch weitere Anträge oder Erklärungen?«, fragte der Vorsitzende.
»Ja«, sagte Biegler. Er öffnete die Augen und lehnte sich nach vorne. »Der zweite Teil der Erklärung des Angeklagten ist ein Video. Wir werden es jetzt mit der Erlaubnis des Gerichtes abspielen.«
Die beiden Wachtmeister zogen die gelben Vorhänge zu. Der Saal lag im Halbdunkel. Biegler schaltete mit einer Fernbedienung den großen Bildschirm ein. Der Fernseher stand so hinter der Richterbank, dass alle im Saal zusehen konnten.
Es war ein computeranimierter Film: Auf dem Bildschirm erschien der Schachtürke. Er bewegte seinen Arm und spielte gegen einen unsichtbaren Gegner. Die Kamera zeigte das Schachbrett. Der Schachtürke spielte immer schneller, er warf die Figuren vom Brett. Am Schluss waren nur noch der schwarze König, zwei schwarze Türme und ein weißer Bauer übrig. Auf dem Bildschirm sah man jetzt die Figuren in Großaufnahme. Der schwarze König und die Türme trugen die Roben von Richtern. Sie sahen auf den weißen Bauern herunter. Der Bauer verneigte sich. Dann wurde er flüssig, die weiße Masse lief über das Schachbrett und versickerte in dem Automaten.
Eine Tür unter dem Schachautomaten öffnete sich. Zwischen den Walzen und Zahnrädern kletterte eine junge nackte Frau aus dem Kasten, sie hatte die gleiche Farbe wie die Flüssigkeit. Sie stand mit dem Rücken zur Kamera. Sie drehte sich langsam um. Auf ihre Haut waren Hunderte kleine schwarze Kreuze gezeichnet. Die Kamera zoomte auf ihr Gesicht. Es war das Gesicht von Eschburgs Halbschwester.
Links und rechts tauchten aus dem Dunkel zwei weitere Gesichter auf: Eschburg und Sofia. Alle drei Gesichter waren gleich groß und gleich hell. Ein Skalpell schnitt Sofias Augen- und Eschburgs Nasenpartie aus. Dann wurden beide Teile auf das Bild der Halbschwester geschoben, nur ihr Mund blieb stehen. Ein großer Radiergummi glättete die Nahtstellen. Das neue Gesicht war aus Sofia, Eschburg und der Schwester zusammengesetzt – und alle im Saal kannten es: Es war das Foto, das bei der Durchsuchung überall in Eschburgs Atelier
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