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Tabu: Roman (German Edition)

Tabu: Roman (German Edition)

Titel: Tabu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand von Schirach
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in dieser Stadt doch auch«, sagte Biegler. »Sie könnten vier Millionen dieser unschuldigen Leben retten. Ein wenig Folter gegen die Rettung von ganz Berlin. Das ist doch ein fairer Deal.«
    »Ich …«
    »Sie denken also: Das Mädchen kann nichts für seinen Vater. Sie ist unschuldig, ich darf sie nicht foltern.«
    »Richtig«, sagte der Polizist.
    »Unschuldige darf man also nie foltern?«
    »So ist es.«
    »Aber was ist mit Ihrem Terroristen? Woher wissen Sie, dass er der Schuldige ist? Einfach so? Aufgrund von Indizien? Ihrem Gefühl nach?«, sagte Biegler.
    »Es war nur ein Beispiel«, sagte der Polizist.
    »Ein Beispiel für Jurastudenten im ersten Semester. Ich frage Sie aber als erfahrenen Polizeibeamten. Glauben Sie denn, es kommt ein Terrorist auf die Polizeiwache und sagt: Hallo, wie geht’s euch? Ich habe übrigens gerade eine kleine Atombombe in Berlin versteckt, sie geht in einer Stunde hoch, aber ich sage euch nicht, wo.«
    »Unsinn«, sagte der Polizist. »In meinem Beispiel hätten wir den Terroristen über Monate beobachtet. Wir würden wissen, dass er ein Terrorist ist, dass er schuldig ist.«
    »Schuldfeststellung durch Beobachtung, ich verstehe. Und woher wissen Sie, dass er eine Bombe versteckt hat? Haben Sie das auch beobachtet? Und falls ja, wieso haben Sie ihn dann nicht festgenommen? Wieso haben Sie sein Handy nicht überwacht? Wieso kennen Sie nicht seine Kontaktleute? Wieso haben Sie seinen Laptop nicht ausgewertet? Anders gesagt: Ist es nicht immer so, dass es viel mehr gibt als nur diese eine nackte Information: Ein Terrorist hat eine tickende Bombe versteckt?«, fragte Biegler.
    »Das Beispiel sollte nur klarmachen, in welcher Ausnahmesituation wir sein können«, sagte der Polizist. »Ich wollte damit sagen, dass es notwendig sein kann, zu härteren Mitteln zu greifen.«
    »Aber Sie würden zugeben, dass es einen solchen Fall in der Wirklichkeit nicht gibt.«
    »Wie gesagt: Es ist nur ein Beispiel«, sagte der Polizist.
    »Gut. Wenn ich Sie richtig verstehe, dann würden Sie den Terroristen foltern, um die Wahrheit von ihm zu erfahren.«
    »Um die Bombe entschärfen zu können«, sagte der Polizist.
    »Glauben Sie, dass alle Hexen mit dem Teufel geschlafen haben?«, fragte Biegler.
    »Wie bitte?«
    »Ich meine, ist Ihnen bewusst, dass die Folter auch deshalb abgeschafft wurde, weil Gefangene unter Schmerzen alles gestehen? Sie sagen nicht die Wahrheit, sondern das, was der Folterknecht hören will. Während der Inquisition haben alle Hexen mit dem Teufel geschlafen – das haben sie jedenfalls behauptet, wenn sie lange genug gequält wurden. Selbst der Papst hat irgendwann eingesehen, dass es nichts bringt. In Ihrem Beispiel der tickenden Bombe können Sie doch gar nicht rechtzeitig überprüfen, ob der Terrorist die Wahrheit sagt.«
    »Vielleicht nicht. Aber vielleicht kann ich die Bombe finden und entschärfen«, sagte der Polizist.
    »Sie foltern also, weil es ›vielleicht‹ hilft?«
    »Ich … ich muss es tun, um die Menschen zu retten.«
    »Ich verstehe«, sagte Biegler.
    »In meinem Beispiel wissen wir ja, dass er die Bombe versteckt hat«, sagte der Polizist.
    »Das ist ja das Schöne an Ihrem Beispiel. Sie wissen alles. Auch dass er unter Folter die Wahrheit sagen wird … Sie haben gesagt, Ihnen seien als erfahrenem Polizisten die Gesetze vertraut.«
    »Ja.«
    »Auch unsere Verfassung?«
    »Natürlich«, sagte der Polizist.
    »Sie wissen also, dass jeder – auch ein Entführer – unter dem Schutz dieser Verfassung steht. Ist Ihnen klar, dass Sie seine Würde durch die Folter verletzen?«
    »Und was ist mit der Würde des Opfers?«, fragte der Polizist.
    »Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Biegler. »Sie treffen eine Entscheidung. Sie sagen sich zum Beispiel, ein entführtes Kind ist unschuldig, der Entführer ist schuldig. Er hat seine Würde verspielt und ich darf ihn foltern.«
    »Zur Rettung des Kindes. Es wäre eine ›Rettungsfolter‹«, sagte der Polizist.
    »›Rettungsfolter‹? Was für ein hübscher Begriff«, sagte Biegler. »Das ist dann einfach eine Art härtere Vernehmung für ein edles Ziel?«
    »Ja.«
    »Vielleicht unter ärztlicher Aufsicht?«
    »Kann ich mir vorstellen, ja«, sagte der Polizist.
    »Lange nachdem die Folter in diesem Land abgeschafft wurde, haben die Nazis sie wieder eingeführt. Sie haben sich auch einen besonderen Ausdruck dafür ausgedacht. Kennen Sie ihn?«
    »Nein.«
    »Sie nannten es ›verschärfte

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