Tabu: Thriller
dass sie keine Kontrolle mehr über ihre Hände hat.
Er ist nur noch einen Meter entfernt.
»Überlass sie mir, Kristin«, sagt er.
14 Uhr 27
Kristin sieht, wie sich seine Hand nähert, die schmalen Finger mit dem Siegelring, der ihr vorher nicht aufgefallen ist. Sie hebt den Blick und sieht ihm in die Augen.
Das geschieht doch nicht wirklich.
»Gib ihn mir«, sagt er.
Das ist doch nicht wahr!
Seine Hand …
Sein Blick…
Sie kneift die Augen zusammen und strafft den Zeigefinger.
14 Uhr 27
Der Bus hält mit einem Ruck auf dem großen Parkplatz hinter dem Rezeptionsgebäude. Die Bremsen pfeifen.
Vang sammelt seine Leute in einem Halbkreis um sich und seinen Vize. Er weist sie kurz in die Situation und das Ziel der Aktion ein. Dann überlässt er es seinem neuen Kollegen, das Gelände zu beschreiben. Der Polizist zeichnet eine Karte in den Kies. Parkplatz, Campinghütten, Stromschnelle, Wasserfall. »Hier liegt die Hütte Nummer sechs«, sagt er und steckt einen Zweig in die Erde.
Vang sieht auf die Uhr. »Um Punkt 14 Uhr 30 schlagen wir zu. Gruppe Zulu sichert das Objekt und nimmt ihre Positionen ein. Gruppe Foxtrott macht sich bereit, auf meinen Befehl einzugreifen. Gruppe Charlie bildet einen äußeren Zirkel. Die Einsatzzentrale richten wir in der Rezeption ein. Funkverbindung über Kanal vier, ich wiederhole, Kanal vier. Noch Fragen?«
Es gab keine Fragen.
14 Uhr 28
Der Knall ist ohrenbetäubend. Beißender Pulvergestank steigt ihr in die Nase. Ihre Hände werden nach oben gedrückt, und der Druck pflanzt sich in ihrem Körper fort. Sie lässt den Revolver mit einem Aufschrei fallen.
Er krümmt sich zusammen.
Mein Gott, ich habe auf ihn geschossen, denkt sie. Ich habe ihn erschossen, ihn getötet, ich habe es wirklich getan.
Sie taumelt nach hinten, presst sich gegen die Wand.
Mein Gott, ich habe ihn erschossen, und jetzt stirbt er!
Er hält sich stöhnend die Hände vor die Brust.
Ich habe ihn erschossen!
Sie steckt sich die Fingerknöchel in den Mund und beißt zu.
Plötzlich richtet er sich wie eine zusammengepresste Sprungfeder auf; breitet die Arme aus, wirft sich brüllend wie ein Wilder auf den Boden und greift sich den Revolver.
Sie schreit.
14 Uhr 28
Vang zuckt zusammen, als er den Schuss hört. Er ist auf dem Weg in die Rezeption, wo Gunnar Borg und der langhaarige Kameramann warten, den sie Roffern nennen.
Der scharfe Knall lässt alle zusammenzucken und zur Hütte unten am Fluss blicken.
»Mein Gott«, sagt Gunnar.
Der Kameramann schüttelt sich und hebt sich die schwere Kamera auf die Schulter.
Vang greift das Mikrofon seines Walkie-Talkies. »Kontrolle an Zulu, Foxtrott, Charlie! In der Hütte ist ein Schuss gefallen, ich wiederhole: In der Hütte ist ein Schuss gefallen. Nehmen Sie Ihre Positionen ein. Halten Sie Ihre Waffen bereit! Zulu, nur auf meinen ausdrücklichen Befehl oder in absoluter Lebensgefahr schießen! Rapportieren Sie mir sofort jede Bewegung im Objekt. Foxtrott und Charlie, verhalten Sie sich ruhig. Bestätigen!«
Es knackte im Lautsprecher.
»Zulu – verstanden.«
»Foxtrott – verstanden.«
»Charlie – verstanden.«
14 Uhr 29
»Verdammt«, sagt er. »Das hab ich dir doch tatsächlich nicht zugetraut.«
Sie schluchzt.
Er steht auf. Überprüft den Revolver.
»Dann sind wir uns wohl doch ziemlich ähnlich. Ganz tief im Inneren. Das freut mich. Wirklich. Du kannst töten. Wenn du ruhiger gewesen wärest und nicht so schrecklich gezittert hättest, hättest du vermutlich sogar getroffen. Außerdem hilft es, wenn man die Augen offen hält. Dann sieht man, worauf man zielt und ob sich das Ziel duckt oder zur Seite bewegt. Aber das ist nicht das Wesentliche. Entscheidend ist, dass du treffen wolltest. Dass du töten wolltest. Ich werfe dir das nicht vor. Ganz im Gegenteil. Das macht dich mir ähnlicher, als ich zu hoffen gewagt hatte.«
Sie weint unkontrolliert. Rutscht mit dem Rücken an der Wand zu Boden.
Vor der Hütte hört sie Stimmen, kurze Befehle, schnelle Schritte.
Er blickt kurz nach draußen.
»Da sind sie also«, sagt er und schnalzt mit der Zunge.
Er zerschlägt eine Scheibe und schießt. Draußen wird alles still.
Sie kauert sich auf den Boden, versucht, sich zu einem Bündel zu verschnüren, einem festen Knoten, einer Auster, die niemand öffnen kann.
»Die Polizei«, sagt er.
Sie ist nicht erleichtert. Es ist ihr gleichgültig. Sie können ohnehin nichts machen.
Nichts.
Merkwürdigerweise beruhigt sie diese Erkenntnis
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