Tacheles
Aschenbecher entnahm. Danach fuhr er in die Innentasche seines Sakkos und holte sein goldenes Zigarettenetui hervor, welches er bedächtig öffnete, um ihm eine „Donau“ zu entnehmen. Diese führte er langsam zum Mund, klemmte sie zwischen die Lippen, während die Hände nach einem Streichholz suchten. In der Schublade befand sich eine Schachtel „Sirius“, deren Inhalt einen Augenblick später um ein Streichholz erleichtert war. Bronstein entzündete dieses und steckte sodann die Zigarette an. Gierig sog er den Rauch in die Lungen, um ihn schließlich genussvoll wieder auszublasen.
Jetzt erst wandte er sich der Presse zu, die wie stets schon in aller Früh auf seinen Schreibtisch gelegt worden war. Da er die „Wiener Zeitung“ bereits im „Herrenhof“ überflogen hatte, nahm er nun die „Reichspost“ zur Hand.
Bronstein musste lächeln. Seine gestrige Vermutung hatte sich als völlig richtig erwiesen. Die „Reichspost“ trat den geordneten Rückzug an. Jetzt war da mit einem Mal von einer Blutnacht die Rede, davon, dass sowohl Röhm als auch Schleicher ermordet worden seien. Nicht also etwa hingerichtet oder beim Versuch, sich einer Verhaftung zu widersetzen, getötet, nein, ermordet, was, wie jeder Polizist wusste, den bewussten Vorsatz voraussetzte. Diese Darstellung mochte dem Kanzler schon mehr behagen, dessen war sich Bronstein sicher. In einem Kommentar auf der Titelseite wurden einzelne Opfer des Vortages zu tapferen Helden, die sich um die Sache des KatholizismusinDeutschland verdient gemacht und nie und nimmer eine Verschwörung angezettelt oder diese auch nur unterstützt hätten. Ja, die „Reichspost“ war wieder auf Linie. Passend dazu stand auf der zweiten Seite ein ausführlicher Artikel, laut dem sich das deutsche Episkopat gegen das in Deutschland zunehmend grassierende Neuheidentum aussprach. Kombiniert wurde dies alles mit der Prognose, Hitler werde schweren Tagen entgegengehen.
Es klopfte an der Tür. „Herein!“, rief Bronstein, und der Amtsdiener erschien mit einem verhältnismäßig dicken Aktendeckel unter dem Arm. „Das Dossier über Demand, das was Sie bestellt haben, Herr Oberst.“
„Nur her damit.“
Der Amtsdiener machte einige Schritte auf Bronsteins Schreibtisch zu und legte das Konvolut vor dem Oberst auf die Tischplatte. Er verbeugte sich leicht, murmelte ein „Bitte schön“ und trat den Rückzug an.
Unwillkürlich musste Bronstein an den gestrigen Abend denken, und er hoffte inständig, der Bedienstete würde seine grenzenlose Verlegenheit nicht bemerken, die ihn augenblicklich überkam. Er wusste, dass er kein strahlender Held war, aber sein Verhalten vom Vorabend erschien ihm im höchsten Maß tadelnswert. Wie konnte man sich nur so gehen lassen, fragte er sich. Am besten war es wohl, er verdrängte diese unerfreuliche Episode mit aller Macht, zu der sein Geist imstande war, und konzentrierte sich umso mehr auf den Fall, denn ließ er sich erst einmal zu solch primitivem Treiben hinreißen, dann war es auch bis zur vollkommenen geistigen Verweichlichung nicht mehr weit. Disziplin und ergo auch Selbstdisziplin, an diese Schlüsselwörter hatte er sich zu halten, damit war er bisher schon hervorragend gefahren, und diese Haltung würde ihm auch in Hinkunft seine Würde und damit auch seine Selbstachtung bewahren helfen.
Bronstein wartete, bis der Amtsdiener das Zimmer wieder verlassen hatte, legte die Zeitung beiseite und griff nach dem Aktenbündel. Offenbar war Emanuel Demand ein wahrer Wirtschaftsgigant gewesen. Sein Unternehmen zählte zu den größten Zuckerproduzenten Mitteleuropas, und das schon, wie sich zeigte, seit Generationen. Innerlich seufzte Bronstein, als er in einem Artikel, der vor geraumer Zeit zum hundertjährigen Firmenjubiläum erschienen war, las, dass auch bei Demand alles in Galizien begonnen hatte. 1830 hatte dessen Großvater dort eine Rübenzuckerproduktion aufgebaut und offenbar damals schon mit Schnaps und anderen vergleichbaren Waren ein stattliches Zubrot verdient. Er belieferte nach geraumer Zeit die kaiserliche Armee, erwarb große Tabakplantagen und stieg gegen Ende seiner Laufbahn groß in das Spirituosen- und Rauchwarengeschäft ein. Sein Sohn erweiterte das firmeneigene Sortiment um einige Schlachthöfe, und so wuchs die Firma Demand bis 1918 zu einem der führenden Nahrungs- und Genussmittelproduzenten der Monarchie.
Den Zusammenbruch hatte die Firma offensichtlich gut überstanden. Im Gegenteil, je trostloser die
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