Tacheles
ehe sie plötzlich stutzte und den Ausweis näher in Augenschein nahm, ehe ihn Bronstein wieder zuklappen konnte.
„Du bist ja do a Jud!“, tönte sie verwundert.
Jetzt wurde Bronstein ernsthaft ärgerlich: „Schau, dass d’ weiterkommst, du ausg’schamter Donaufetzen. Waun i di no amoi do siech, dann kannst dauerhaft absteigen im Hotel Elisabethpromenade. Dann kannst abmarkieren. Hast mi verstanden, Bordsteinschwalberl?“
„Leck mi in Oasch, Kiwara“, gab die Schwalbe schnippisch zurück.
„Des hätt’st gern, wos? Aber daraus wird nix. Abgang, und zwar dalli!“
Bronstein sah der Prostituierten zu, wie sie eilig in einem Hausflur verschwand. Er schüttelte den Kopf und nahm nun die letzten hundert Meter bis zu seiner Wohnung in Angriff.
Jetzt waren also selbst schon die Huren Antisemiten, dachte er, während er in seiner Tasche nach seinem Haustorschlüssel suchte. Wo würde das alles enden?
Endlich in den eigenen vier Wänden, schenkte er sich einen Cognac ein, trank einen kleinen Schluck und trat dann an seinen Bücherschrank. Er wusste, wonach er suchte. Er griff nach Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ und blätterte nach dem Beginn des dritten Aktes. Dort wurde er alsbald fündig. Er las die Passage und sprach sie dabei murmelnd mit: „Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?“ Und dann kam der zentrale Satz: „Wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen?“ Allmählich begann Bronstein jene Juden zu verstehen, die sich selbst Zionisten nannten und auf irgendwelche Lehren eines Journalisten schworen, der vor dreißig Jahren das Zeitliche gesegnet hatte. Vielleicht war Palästina ja wirklich das gelobte Land für die Juden. Ein Land, in dem sie nicht andauernd angepöbelt wurden und sich endlich sicher fühlen konnten. Und vielleicht gab es dann auch für ihn dort einmal ein Plätzchen, wenn Wien endgültig denSchreiereien dieses Braunauers erlag, wer konnte sagen, was dann mit ihm geschehen würde. Bronstein erinnerte sich daran, vor nahezu zehn Jahren einen Roman von Hugo Bettauer gelesen zu haben. Damals hatte er herzhaft über die absurde Idee gelacht, Wien könnte einfach all seine Juden ausweisen, denn nahezu brillant hatte Bettauer illustriert, was das für Wien bedeuten würde. Doch hätte man vom Lande der Dichter und Denker erwartet, dass es einfach seine jüdischen Bürger entrechtete und vertrieb? Was dort passierte, konnte doch auch in Österreich geschehen. Vielleicht sollte er sich also wirklich beizeiten nach einem warmen Plätzchen in Jerusalem umsehen?
Doch andererseits, was wusste er schon vom Judentum? Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals etwas aus dem Talmud gehört zu haben. Er vermochte nicht zu sagen, was es mit der Thora auf sich hatte, ja er verstand sich nicht einmal darauf, die klassischen Gegenstände, mit denen orthodoxe Juden sich umgaben, richtig zu benennen. Nein, er wäre in Palästina genauso ein Außenseiter wie er es in Wien war. Und Wien kannte er immerhin.
Hinweg, trübe Gedanken, sagte er sich und schenkte kräftig Cognac nach. Er legte sich eine neue Schachtel „Donau“ auf den Tisch und ließ sich dann in seinem Fauteuil nieder. Es war schon Mitternacht vorbei, als er endlich den „Kaufmann“ zuklappte, das Licht löschte und sein einsames Bett aufsuchte.
IV.
Dienstag, 3. Juli 1934
Als Bronstein sich seine erste Zigarette angezündet und den ersten Schluck Kaffee getrunken hatte, nahm er die „Wiener Zeitung“ vom Tage zur Hand. Die machte mit einem weitschweifigen Artikel über das „Weltecho der deutschen Ereignisse“ auf. Bronstein fragte sich, ob er wirklich wissen wollte, was das „Journal des Debats“ oder die „Gazette de Lausanne“ zu sagen hatte – und blätterte dann um. Sieh an, dachte er sich, auch Gregor Strasser befand sich unter jenen siebzehn ehemaligen Politgrößen, die seit dem 30. Juni liquidiert worden waren. Und Innenminister Frick definierte, was der Nationalsozialismus vom Beamten erwartete: unbedingten Gehorsam, Disziplin und Unterordnung unter den Willen des Führers. Und was der Führer wollte, das wusste man ja. Bronstein verlangte es trotz der frühen Stunde nach einem Cognac.
Auf Seite 3 vermeldete die Zeitung stolz, am heutigen Tage erstmals mit dem neuen Staatswappen erschienen zu sein. Bronstein hielt inne und sah zurück auf die Titelseite. Richtig. Das war ihm gar nicht aufgefallen. Der neue
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