Tacheles
Bundesadler wirkte freilich eher hybrid. Ein Doppeladler für ein Land von sechs Millionen war ohne Frage Hochstapelei. Und das kam auch im ganzen Erscheinungsbild des Tieres deutlich zum Ausdruck. Die Fänge waren leer, der Bindenschild die einzige Zier. Das Wappen war mithin überaus sinnfällig. Allein der Heiligenschein, der jedem der beiden Köpfe beigegeben war, mochte Österreichs Reichtum andeuten. Wie hieß es so schön? Die Letzten werden die Ersten sein. So gesehen hatte Österreich vielleicht wirklich noch eine Hoffnung. In der nächsten Welt.
Die Artikel über ein Kindertreffen der Vaterländischen Front und über Dollfuß’ Appell an die Studentenschaft interessierten Bronstein herzlich wenig. Auch den Bericht aus der Tschechoslowakei überflog er nur, wenngleich es immerhin bemerkenswert war, in Zeiten wie diesen in der „Wiener Zeitung“ einen Satz zu finden, der da lautete: „Wir müssen ohne Unterschied von Partei und Nationalität die Demokratie unter allen Umständen verteidigen.“ Für diese Formulierung saßen hierorts wahrscheinlich etliche Sozialdemokraten immer noch in Haft. Außenminister Beneš, der diese Aussage getätigt hatte, war vielleicht wohl beraten, nicht allzu bald eine Visite in Wien zu planen. Und wie aufs Stichwort war auf Seite 7 zu lesen, dass erneut ein Prozess gegen Sozialdemokraten, diesmal in Linz, begonnen hatte.
Bronstein fand all dies sehr unerfreulich, und so blätterte er eilig auf die Sportseite weiter, hoffend, diese möge ihn auf andere Gedanken bringen. Doch auch hier gab es keine Ablenkung, sondern nur eine mehr oder minder konfuse Aneinanderreihung von Kurzmeldungen, die ihn samt und sonders nicht interessierten. Ermüdet legte er die „Wiener Zeitung“ beiseite und griff, nachdem er sich zuvor eine neue „Donau“ angeraucht hatte, zur „Reichspost“.
Es war wie verhext. Nirgendwo existierte auch nur eine einzige interessante Zeile. Der Artikel über den antireligiösen Feldzug der GPU in Sowjetrussland vermochte ihn ebenso wenig zu fesseln wie jener über einen Kindergottesdienst. Sportnachrichten entdeckte er überhaupt keine. Resigniert dämpfte er seine Zigarette aus, trank den letzten Schluck Kaffee und machte sich endlich auf den Weg in sein Büro.
Er hatte kaum die Tür geöffnet, als ihm schon der fröhliche Gruß von Cerny entgegenschallte. Bronstein konnte sehen, dass Cerny ein Dossier in Händen hielt, und reagierte mit einer fragenden Geste. „Das Obduktionsergebnis. Wir haben esvor einer knappen halben Stunde erhalten. Steht aber nichts drinnen, was wir nicht schon wüssten. Der Tod dürfte kurz nach Mitternacht eingetreten sein. Verursacht durch ein multiples Organversagen infolge der zahlreichen Tritte, Schläge und sonstigen Verletzungen. Der Schädelbruch zum Beispiel wäre allein noch nicht tödlich gewesen, aber Demand trug einen Milzriss davon, weiters eine schwere Leberquetschung, die Lunge wurde von einer abgebrochenen Rippe durchbohrt, na und so weiter. All das hat der Körper dann irgendwann nicht mehr ausgehalten, und so hat er sich dann verabschiedet, der Herr Demand. Aus und Ende der Fahnenstange, wie es so schön heißt.“
„Cerny, Cerny, heute hast du wieder Formulierungen auf Lager.“ Bronstein machte eine missbilligende Miene.
„Na, das gewöhnt man sich wohl an bei den Fleischhackern von der Gerichtsmedizin.“
„Sag das nicht. Ich werd mich mein Leben nicht an denen ihre Ausdrucksweise gewöhnen.“
„Übrigens. Ausdrucksweise. Der Chef will uns sehen.“
„Welcher? Der echte oder der nominelle?“
„Formal der nominelle, aber ich denke, der echte wird auch dabei sein.“
Es hatte sich längst in der Wiener Polizei eingebürgert, zwischen dem Polizeipräsidenten und seinem Stellvertreter keinen großen Unterschied mehr zu machen, denn die Stellung des Präsidenten war nachhaltig durch den Umstand unterminiert, dass dieser ein überaus zaudernder und zögerlicher Mann war, der sich nur selten zu irgendwelchen Entschlüssen durchzuringen vermochte. Eugen Seydel war ein im Amt ergrauter älterer Herr, der sein Leben im Polizeidienst verbracht hatte, ohne sich je sonderlich zu exponieren. Ohne jede Signifikanz hatte er sich nach oben gedient und war immer dann zum Zug gekommen, wenn sich zwei Kontrahenten gegenseitig blockierten. So hattesich Seydel eines Tages im Büro des Polizeivizepräsidenten wiedergefunden, was ohne Frage die Krönung einer farblosen Karriere hätte sein können. Doch dann war
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