Tacheles
plötzlich und völlig unerwartet Präsident Schober verschieden, und weil sich die Regierungsfraktionen untereinander nicht auf einen Nachfolger zu einigen vermochten, hatte man kurzerhand Seydel zum neuen Polizeipräsidenten ernannt.
Der fühlte sich nun schon seit zwei Jahren chronisch überfordert, was man ihm auch immer deutlicher anmerkte. Er wurde noch schweigsamer, noch zaghafter und begann allmählich mehr und mehr zu kränkeln. Es war allgemein bekannt, dass er zum frühestmöglichen Zeitpunkt in den Ruhestand treten wollte, was, wie die Personalisten errechnet hatten, bedeutete, dass er zu Beginn des folgenden Jahres aus dem aktiven Dienst ausscheiden konnte. Mit restlichen Urlaubsansprüchen und dergleichen mochte Seydel ab Mitte November damit beginnen, sein Büro auszuräumen, und diese Perspektive schien das Einzige zu sein, das ihn im Amt überhaupt noch aufrecht hielt.
Seydels Purgatorium war das Paradies für seinen Vizepräsidenten. Michael Skubl hatte eigentlich schon 1932 damit gerechnet, Polizeipräsident zu werden, war er doch der erklärte Favorit der Christlichsozialen für diesen Posten gewesen. Doch der Koalitionspartner hatte sich damals aus unerfindlichen Gründen quergelegt, und so hatte Skubl vorläufig noch Seydel den Vortritt lassen müssen. Skubl sah aus wie ein Doppelgänger des seinerzeitigen Kanzlers Seipel, und obwohl er nur fünf Jahre älter war als Bronstein, meinte dieser, er ginge jederzeit als Skubls Sohn durch, eine Ansicht übrigens, die Cerny insgeheim nicht zu teilen vermochte, wiewohl er es sorgfältig vermied, Bronstein in dieser Hinsicht zu widersprechen. Seit Seydel beständig mehr in Agonie verfiel, spürte Skubl stetigen Aufwind, und so benahm er sich mittlerweile schon völligungezwungen und agierte als der eigentliche Chef des Hauses, woran ihn Seydel nur noch in wenigen Ausnahmesituationen zu hindern versuchte. Es war Skubl, der die Entscheidungen traf, Skubl, der nach außen agierte, Skubl, der im Inneren die Befehle ausgab. Und wenn Skubl einen guten Tag hatte, dann holte er pro forma die Bestätigung von Seydel ein, die ihm nie verweigert wurde. Chefs waren mithin also beide, und um sie zu unterscheiden, sprach man intern vom „nominellen“ und vom „eigentlichen“ Chef. Und zuletzt war es stets etwas Besonderes gewesen, wenn einen der „nominelle“ Chef zu sich lud, denn das kam praktisch nicht mehr vor. Eher schon ließ einen die „Nummer drei“ des Präsidiums rufen, Otto Steinhäusl, der seinerzeit von den Großdeutschen favorisiert worden war, weshalb diese sich auch gegen Skubl gestemmt hatten. Steinhäusl galt als strammer Deutschnationaler, aber Bronstein und Cerny hegten die Vermutung, Steinhäusl sei in Wirklichkeit schon längst mit den illegalen Nationalsozialisten im Bunde. Doch es wäre äußerst ungesund gewesen, einen solchen Verdacht auch nur andeutungsweise zu äußern, denn Steinhäusls Macht wuchs ungefähr im gleichen Ausmaß wie jene von Skubl, wobei nicht wenige die These vertraten, Skubl repräsentiere die Vergangenheit, Steinhäusl hingegen die Zukunft.
Bronstein durfte gar nicht daran denken, was aus ihm werden würde, wenn Steinhäusl erst einmal Präsident war. Wahrscheinlich würde er auf irgendein Wachzimmer an der Peripherie versetzt und dürfte Hagelschäden prüfen und entlaufenen Katzen nachstellen. Nicht dass er Skubl sonderlich sympathisch war, doch der achtete immerhin noch die Personalhoheit Seydels, bei dem Bronstein gut angeschrieben war, fühlte sich Seydel doch mit Bronstein kollegial verbunden. Aber die Zeiten, in denen sich die Beamten der Wiener Polizei als Mitglieder einer verschworenen Gemeinschaft sahen, in der Fragen der Parteizugehörigkeit ebenso wie jene der Zugehörigkeitzu einer bestimmten Religion völlig gegenstandslos waren, schienen unwiderruflich vorbei. Weder Bronstein noch Cerny fanden es sonderlich beruhigend, dass mittlerweile, internen Schätzungen zufolge, jeder dritte Polizist mit den Nazis sympathisierte oder sich ihnen gar schon angeschlossen hatte. Man musste daher höllisch aufpassen, wem man wann was sagte, zumal bei einem so komplizierten Fall, wie es der Fall Demand war.
Bronstein wurde bewusst, dass Cerny auf eine Reaktion wartete. „Wann?“, fragte er schließlich.
„Es hat g’heißen, sobald du da bist.“
„Na, dann gemma.“
Cerny klappte das Dossier mit den Resultaten der Gerichtsmedizin zu und erhob sich. Bronstein drehte sich in der Tür um und wartete auf
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