Tacheles
war.
„Jo, es kenn nit brengen kein Schoden, as men kuckt, wos men hot wie a Jerusche vun die Ovess“, nickte Duft beifällig, „far a jeden Mensch is gut zu kennen sein Ort in der Welt.“
Bronstein überlegte einen Moment, ob er auf diesen Satz mit einem Aperçu à la „Ja, und mein Ort ist jetzt das Wirtshaus“ antworten sollte, doch die bedächtige Ernsthaftigkeit, mit der Duft gesprochen hatte, ließ ihn davon Abstand nehmen. Er verfiel schließlich auch auf ein Nicken und meinte, darüber werde er nachdenken müssen: „Wenn Sie erlauben, werde ich Sie bei Gelegenheit wieder um einen Rat fragen. Jetzt aber hätte ich gerne ein weißes Hemd.“
Wenig später machte er sich mit einem schönen Stück auf den Weg in die Gaststube.
VI.
Donnerstag, 5. Juli 1934
Wiewohl er am Vortag früh zu Bett gegangen war, kam Bronstein am Donnerstag nur mit Mühe aus den Federn. Denn Schlaf, so gestand er sich ein, während er eine Weile reglos am Bettrand verharrte, hatte er nur wenig gefunden. Dufts Ausführungen schwirrten ihm immer noch durch den Kopf, und er musste zugeben, der alte Mann beeindruckte ihn auch am Morgen noch. Er sah kurz zu seinem Tisch hin, auf dem all die Materialien gestapelt lagen, die er gestern von dem Tuchhändler geschenkt bekommen hatte. Am Wochenende würde er sie sich zu Gemüte führen und dabei jene Erkenntnisse rekapitulieren, die er durch Duft eben erst gewonnen hatte.
Doch nun lag ein weiterer Werktag vor ihm, und es gab keine Ausrede, das Tagewerk länger hinauszuzögern. Er wusch sich eilig und kam so leidlich wieder zu sich. Ein Blick aus dem Fenster überzeugte ihn davon, dass es ein sehr heißer Tag werden würde, und so entschied er sich für einen weißen Leinenanzug. Dazu nahm er seine Mailänder Schuhe und einen modischen weißen Hut, und zehn Minuten vor acht Uhr morgens trat er auf die Straße.
Rechtzeitig zur vollen Stunde erreichte er sein Stammcafé, wo auf seinem Platz schon die „Wiener Zeitung“ vom Tage bereitlag. Unaufgefordert brachte der Ober den Kaffee, und Bronstein entnahm seinem Etui eine „Donau“, die er nach einem ersten Schluck genüsslich anrauchte. Dann nahm er die Zeitung zur Hand.
Schon die Titelseite widerte ihn an. Ein ellenlanges Gespräch mit einem abgehalfterten Politiker über die Zukunft derchristlich-sozialen Bewegung. Noch langweiliger konnte es nicht zugehen auf einer Titelseite. Ohne auch nur die Einleitung zu lesen, blätterte er einfach um.
Auf Seite 2 ging es allerdings in derselben Tonart weiter. Minister Schuschnigg warnte die Studenten davor, den nationalsozialistischen Einflüsterern zu erliegen. So weit war es also schon, dass selbst die Regierung sich eingestehen musste, bei der Jugend überaus schlechte Karten zu haben. Vielleicht war an den Kassandrarufen des Siegfried Demand ja doch etwas dran. Bronstein begann sich ein wenig unwohl zu fühlen und fuhr sich mit den Fingern zwischen Hals und Hemdkragen. Als dies jedoch nicht zum gewünschten Erfolg führte, ließ er Disziplin Disziplin sein und öffnete den obersten Knopf. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit trank er das Glas Wasser, das ihm stets mitgeliefert wurde. Dann schüttete er den Rest des Kaffees regelrecht hinterher und hielt die Tasse hoch, um dergestalt Nachschub zu ordern.
Rechtzeitig zur zweiten Tasse zündete er sich eine weitere „Donau“ an. Er war wieder halbwegs zur Ruhe gekommen und blätterte auf Seite 3. Dort waren endlich interessante Nachrichten zu lesen. Der Machtkampf in Deutschland dauerte in gewisser Weise weiterhin an. Nun ging es quasi um die zweite Reihe. Die bürgerlichen Elemente in der Regierung, gruppiert um Vizekanzler Franz von Papen und Finanzmogul Hjalmar Schacht, rangen offenbar darum, ihren Einfluss nicht gänzlich zu verlieren, während die nationalsozialistischen Hardliner um Göring und Himmler nun nach der ganzen Macht strebten. Dieser Kampf schien noch nicht entschieden, wenn man dem Korrespondenten der „Wiener Zeitung“ Glauben schenkte. Doch der Artikel schien sich primär auf Mutmaßungen und Gerüchte zu stützen, denn es hieß darin auch, dass Hitler durch die Ereignisse in eine Depression geschlittert sei und um zehn Jahre gealtert aussehe. Vielleicht war hier der WunschVater des Gedankens, sagte sich Bronstein, für den es jedenfalls evident schien, dass der Versuch der bürgerlichen Rechten, Hitler zu zähmen, nicht in jener Weise Erfolg gebracht hatte, wie diese es erwartet haben mochte. Zwar waren mit Röhm
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