Tacheles
und seinesgleichen die wohl ärgsten Rabauken beseitigt worden, aber gleichzeitig hatte man offensichtlich auch unter den Gemäßigten kräftig gewütet. Das weitere Schicksal des Vizekanzlers würde also zeigen, auf welche Seite die Waage sich neigen werde.
Interessant erschien Bronstein auch die Seite 4. Nicht, weil Starhemberg sich dort neuerlich in seinen Tiraden erging, sondern weil in einer eigenen Kolumne der Versuch einer Analyse der Ereignisse vom 30. Juni unternommen wurde. Angeblich habe Hitler Röhm den Interessen der Wehrmacht geopfert, hieß es da. Reichswehrminister Blomberg und der Chef der Heeresleitung Fritsch hätten von Hitler die Entfernung Röhms verlangt, der sich persönlich durch sein Privatleben zutiefst diskreditiert habe. Gezwungen, zwischen Wehrmacht und SA zu wählen, habe Hitler sich für Erstere entschieden. Gleichzeitig aber warf der Artikel die Frage auf, weshalb Hitler Röhm gleich ermorden lassen musste, er hätte ihn ja auch, wie Stalin es mit Trotzki getan hatte, der doch eine bedeutend explosivere und gefährlichere Persönlichkeit als Röhm sei, einfach verbannen können. Warum dies jedoch nicht geschah, werde wohl erst die Zukunft erhellen können, schloss der Autor dieses Beitrags.
Bronstein sah auf die Uhr und meinte, eine Zigarette ginge sich noch aus, bevor er endgültig dem Amte zuzustreben genötigt war, und so griff er neuerlich zu Etui und Zündholzschachtel, dieweilen er in der Zeitung weiterschmökerte. Unter „Vermischtes“ erfuhr er, dass Hermann Lackner, ein führender steirischer Sozialdemokrat, wegen seiner Involvierung in die Februarunruhen zu einer mehrjährigen Kerkerhaft verurteiltworden war, zudem verhieß der Wetterbericht eine weitere Erwärmung. Und unter „Amüsante Verlustliste“ stand zu lesen, dass in den vergangenen Monaten nicht nur Brieftaschen, Schirme und Kopfbedeckungen beim Fundamt abgegeben worden seien, sondern auch Brillen jedweden Aussehens und jeder Fasson, sogar künstliche Gebisse und ein künstliches Bein. Mit den abgegebenen Säugetieren und Vögeln, 245 an der Zahl, könne man im Fundamt eine Menagerie eröffnen. „Vielleicht erinnert sich doch einer der Verlustträger noch an sein ehemaliges Eigentum und holt es sich Bräunerstraße 5 zwischen 9 und 14 Uhr ab.“
Bronstein lächelte.
Auf Seite 7 las er sodann, dass Marie Curie gestorben sei. Dunkel erinnerte er sich daran, dass diese Frau zweimal den Nobelpreis, einmal für Physik und einmal für Chemie, wie er meinte, erhalten und irgendetwas mit Kernspaltung, Atomenergie oder dergleichen zu tun gehabt hatte. Aber Bronstein war an Naturwissenschaften nicht sonderlich interessiert, und so blätterte er einfach weiter, während er nebenbei die Zigarette ausdämpfte. In der Filmschau kündigte das Apollo-Kino in Gumpendorf nicht nur einen neuen Kiepura an – Bronstein liebte die Kunst dieses tschechisch-polnischen Sängers über alles, weshalb er überhaupt damit begonnen hatte, die betreffende Kolumne zu lesen –, sondern erklärte auch, der Film „Maskerade“, in dem eine gewisse Paula Wessely, von der Bronstein freilich noch überhaupt nichts gehört hatte, debütiere, verspreche „eine wahre Sensation“ zu werden. Regie führe Willi Forst, hieß es weiter. Bronstein seufzte. Ein Forst. Was konnte das schon sein? Eine weitere seichte Komödie ohne Tiefgang. Und dass sich die Zeitungen immer so vor Enthusiasmus überschlugen, wenn irgendwo ein neues Mädel in der Glitzerwelt des Films auftauchte. Meist wusste man schon einige Wochen später nicht mehr, wie die betreffende Dame überhaupt geheißenhatte, sie waren bestenfalls berühmt für einen Sommer, um dann umso sicherer in der Versenkung zu verschwinden. So würde es wohl auch mit dieser Wessely sein, dachte sich Bronstein. Schon allein der Name! So hieß man als Hausmeisterin oder Zuschneiderin, aber doch nicht als Filmschauspielerin! Obwohl, hieß das nicht „glücklich“, wie ihm Cerny einmal erklärt hatte? Vielleicht trug die Dame ihren Namen ja zu Recht und hatte Glück in dieser Branche. Gerade in schweren Zeiten stand die breite Masse ja auf die leichte Muse, und so mochte die junge Dame vielleicht doch reüssieren.
Im Sport stand schließlich nochmals über das bevorstehende Match von Rapid gegen Bologna zu lesen, sodass sich Bronstein ernsthaft überlegte, am Sonntag vielleicht wirklich in den Prater zu pilgern, zumal man den Matchbesuch ja auch gleich mit einem im „Lusthaus“ verbinden konnte, der
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