Tacheles
bei Eva nicht mehr als das Menü von voriger Woche. Was heißt „das Menü“? „Ein“ Menü aus der Vorwoche. Und was wurde aus Essen, wenn es einmal verdaut war? Eben!
Als Bronstein erkannte, dass er mehr und mehr in Selbstmitleid zu versinken drohte, platzte plötzlich der Bürodiener in die Amtsstube. „Der Herr Präsident wünscht Sie beide zu sehen“, keuchte er, „jetzt sofort, er will über den Fortgang der Ermittlungen informiert werden.“
Cerny schüttelte leicht mit dem Kopf: „Das ist aber gar nicht Seydels Art. Normal lässt er sich ja auch nur über das Endergebnis Bericht erstatten.“
Der Bürodiener errötete leicht: „Tschuldigung, ich meinte den Herrn Vizepräsidenten.“ Auch in den unteren Rängen war man sich also längst über die wahre Hierarchie im Haus im Klaren, dachte Bronstein mit einem leichten Schmunzeln auf den Lippen.
Der Skubl! Der entwickelte ja wirklich bemerkenswerten Ehrgeiz. Klar, der sah jetzt endlich seine Chance gekommen, sich wirkungsvoll und dauerhaft zu profilieren. Und wie er dabei mit Seydel umsprang, war symptomatisch für einen Machtmenschen, wie Skubl einer war. Unwillkürlich musste Bronstein an das Jahr 1927 zurückdenken, als es Skubl, damals noch ein kleiner Hofrat in der Polizeidirektion Wien, gewesen war, der den Schießbefehl vor dem Justizpalast erteilt hatte. Fast hundert Arbeiter hatte Skubl damals ins Jenseits befördern lassen,rund tausend Verletzte forderte sein gedankenloser Befehl, und obwohl Skubl mit seinem unüberlegten Vorgehen immensen Schaden angerichtet hatte, ließ sich nicht einmal die kleinste negative Konsequenz in seiner Karriere erkennen. Im Gegenteil. Fast schien es, als wäre sein Tun dafür verantwortlich gewesen, ihn endlich in die lichten Höhen der Chefetagen zu katapultieren. Schober, der damalige Polizeipräsident, hatte den schwarzen Peter zugeschanzt bekommen, und Skubl galt den Vertretern der rechten Weltanschauung als ihr kommender Mann. Er hatte gezeigt, wie man mit der Linken Schlitten fuhr, und Dollfuß nahm sich an Skubls Entschlossenheit offenkundig ein Beispiel. Kein Wunder also, dass Dollfuß Skubl zu Seydels Nachfolger erkoren hatte. Und daher war es wohl auch naheliegend, dass Skubl persönlich über jeden Fall informiert sein wollte, denn so kurz vor dem Erreichen seiner persönlichen Ziele wäre er wohl ungern wegen irgendeiner Bagatelle ins Trudeln gekommen. Noch dazu, wo sich erst noch zeigen musste, ob jemand wie Demand überhaupt unter Bagatelle zu verbuchen war.
Bronstein und Cerny packten also ihre Akten zusammen und machten sich neuerlich auf den Weg ins Büro des Vizepräsidenten. Dort wurden sie schon ungeduldig erwartet.
„Meine Herren, wie schauen wir aus?“ Skubls Ton war schneidend und in strikter Befehlsform gehalten.
„Nun ja“, entgegnete Bronstein, ein wenig verwirrt darüber, dass ihnen nicht einmal Platz angeboten worden war, von einem Kaffee ganz zu schweigen, „seit unserer letzten Besprechung hat sich nicht allzu viel Neues ergeben. Es ist jedoch so, dass unsere Vermutung hinsichtlich des Juniorchefs und der Gemahlin des Opfers bislang von keinem weiteren Zeugen bestätigt wurde, und auch die Rechtfertigung der beiden Herrschaften klingt überzeugend. In diesem Lichte gehen Kollege Cerny und ich nunmehr eher davon aus, dass der oder die Täter im Bereich der Belegschaft zu suchen sind.“
„Sehr richtig“, schnarrte Skubl, „dort liegt der Hund begraben. Hohe Herrschaften lassen sich nicht zu solch grauenhaftem Tun hinreißen, dazu ist nur der Mob fähig. Schauen Sie sich einfach genau um, meine Herren, wer sich seinerzeit für die Roten engagiert hat, und in diesem Kreis finden Sie zwangsläufig den Mörder.“
Bronstein überlegte, ob er Skubl gegenüber seinen Verdacht gegen die Nazigruppe im Betrieb erwähnen sollte. Einerseits präsentierte sich die Regierung Dollfuß als das Bollwerk gegen den Nationalsozialismus schlechthin, andererseits war es ein offenes Geheimnis, wie viele Vertreter dieser Regierung bereits in pectore mit dem Nationalsozialismus liebäugelten. Und die Spatzen pfiffen es schon länger von den Dächern, dass Skubl selbst in dieser Frage eine zumindest nicht ganz lupenreine Rolle zu spielen schien. Zwar war Skubl nicht so eindeutig positioniert wie sein Stellvertreter Steinhäusl, der Leiter der Wiener Kriminalpolizei, doch hielten sich hartnäckig Gerüchte, Skubl sichere sich nach beiden Seiten hin ab, um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu
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