Tacheles
Wagen und ließen sich, der Hitze der Tageszeit entsprechend, schwer auf die Holzbänke plumpsen. Der Fahrer drehte hektisch an seiner Kurbel, und die Straßenbahn setzte sich schwerfällig wieder in Bewegung. Der Schaffner sah die beiden neu zugestiegenen Fahrgäste neugierig an, und reflexartig zückten beide ihre Dienstmarken. Der Schaffner war damit zufrieden, und Bronstein registrierte beiläufig, wie von einem Augenblick auf den nächsten jede Konversation im Waggon erstorben war. Es war immer gut zu wissen, wie beliebt man als Polizist im Volk war.
Eine halbe Stunde später hatten sie den Friedhof erreicht. Sie stiegen aus und betraten das Areal durch den Haupteingang, von dem aus die Gedächtniskirche mit ihrer mächtigen Kuppel bereits zu sehen war. Bronstein kontrollierte den Sonnenstand und schlug sich dann auf die rechte Seite der Hauptallee, wo die Bäume ein klein wenig Schatten spendeten. Auf diese Weise erreichten sie die Kirche, ohne zuvor vor lauter Schweißausbrüchen vollkommen zerflossen zu sein. Sie setzten eben an, die einschüchternde Treppe, die zum Kircheninneren führte, zu überwinden, als ihnen Orgelmusik entgegenschlug. Die Feierlichkeit hatte offenkundig schon begonnen.
Für einen Mann in Demands Stellung waren erstaunlich wenig Trauergäste zugegen. Politik und Wirtschaft schienen, zumindest auf den ersten Blick, völlig zu fehlen, und auch sonst stach Bronstein niemand ins Auge, der seine Aufmerksamkeit erregt hätte. Ganz vorne saß links die junge, rechts die alte Frau Demand, an deren Seite sich die Söhne samt Anhang befanden, während der Bereich rund um die junge Demand gänzlich leer geblieben war. Sah man auf die hinteren Bänke, so war offenkundig, dass der alte Demand wenig Freunde gehabt hatte. Doch als müsste er dieses Manko durch die Länge seiner Rede ausgleichen, ließ sich der Priester, der die Zeremonie leitete, durch nichts davon abbringen, ohne Unterlass zu reden. Würdigte er zuerst die öffentlichen Verdienste des Verstorbenen, so lieferte er anschließend gleichsam ein Privatissimum über die Fallstricke des Lebens, die es dem Menschen mitunter unmöglich machten, Gottes Gebote so treulich zu erfüllen, wie es seine Pflicht wäre. Auch Demand habe gefehlt, meinte der Priester nur scheinbar kryptisch, denn wohl jeder der Anwesenden wusste, dass sein Eheleben damit gemeint war, doch es sei nicht an den hier Versammelten, deshalb den Stab über ihn zu brechen. Wenn man von Gott Vergebung für seine eigenen Sünden erflehe, dann sei man wohl beraten, auchselbst Gnade vor Recht ergehen zu lassen, denn nicht umsonst hieße es schon im „Vater unser“: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ So solle man es auch mit Demand halten, der durch sein ganzes Leben bewiesen habe, dass er ein guter Mensch, ein wertvolles Mitglied der Gemeinde gewesen sei.
Und Bronstein hatte das dringende Bedürfnis, einfach einzuschlafen. Aus langjähriger Erfahrung wusste er, dass sich, solange dieser Teil der Zeremonie dauerte, ohnehin nichts Wesentliches ereignen konnte, da die Leute auf ihren Sitzen festgeschraubt waren und keine Gelegenheit zu agieren hatten. Erst wenn der Trauerzug auf dem Weg zum Grab war, würden einzelne Personen vielleicht Handlungen setzen, die für die Ermittlungen von Bedeutung sein konnten. Vorerst also konnte er sich getrost zurücklehnen, dachte Bronstein, und ließ den Diener Christi weiterschwadronieren.
Er wusste erst, als er auf die Uhr blickte, dass der Sermon beinahe eine Stunde gedauert hatte. Endlich erhob sich die Trauergemeinde, die Orgel setzte noch einmal ein, und der Priester schritt voran, hinter ihm jene Männer, die den Sarg, der bislang in der Mitte gestanden war, aufgenommen hatten, um ihn zu jener Lafette zu tragen, die Demands letztes Transportmittel sein sollte. Bronstein blickte zur Tür und beobachtete dabei die beiden Witwen. Die junge Demand schien einen Augenblick zu zögern und sah die alte Demand erwartungsvoll an. Bronstein wusste, von Rechts wegen hätte die junge Demand den Vortritt gehabt, doch wie selbstverständlich nahm die alte dieses Privileg in Anspruch und reihte sich, ohne auch nur im Geringsten auf die junge Demand zu achten, unmittelbar hinter dem Sarg ein, dabei ihre beiden Söhne zu sich winkend. Die junge Demand wirkte einen Augenblick verloren, nahm das Geschehen dann aber wortlos hin und marschierte hinter der anderen Familie Demand her. Den übrigen Trauergästenwar dieser
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