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Tacheles

Tacheles

Titel: Tacheles Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Pittler
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einsetzen. Bronstein beschränkte sich also darauf, einfach tonlos zu nicken, und folgte dem Mann zu dem Automobil, das auf der Hinterseite des Bahnhofs geparkt war.
    Wie nicht anders zu erwarten, dauerte die Fahrt keine fünf Minuten. Das Auto bog einmal nach rechts ein, wand sich in angedeuteten Serpentinen nach oben, um schließlich neuerlich nach rechts zu lenken, wo der mächtige Bau des Hotelkomplexes den gesamten Hang dominierte, sodass die dahinter befindliche Kapelle kaum auszunehmen war. Der Chauffeur fuhr den Wagen direkt vor den Haupteingang, wo schon ein Page auf ihn zusprang, um das Gepäck in Empfang zu nehmen. Gemessenen Schritts betrat Bronstein die Hotelhalle und wandte sich der Rezeption zu. Der Portier empfing ihn mit betonter Höflichkeit.
    „Herr Hofrat, schön, Sie wieder bei uns zu wissen. Wir haben Ihnen Zimmer 12 im zweiten Stock herrichten lassen. Das liegt, wie Sie vielleicht zu wissen belieben, genau in der Mitte der Etage, sodass man von dort den allerbesten Blick auf das Tal hat.“
    „Ich bin mir sicher, ich werde hochzufrieden sein. Wie immer“, antwortete Bronstein mit einem generösen Ton in der Stimme.
    Während der Portier mit den Formalitäten der Anmeldung beschäftigt war, blickte sich Bronstein in der Halle um, und unwillkürlich fiel ihm der Anfang der Erzählung Zweigs ein, denn auch hier schien es niemanden zu geben, der für ihn von Interesse war. Eine ältliche Gouvernante war in ein Modemagazin vertieft, während ein Kind von reichlich sechs oder sieben Jahren neben ihr seine Zeit damit zubrachte, irgendein Bild mit Buntstiften auszumalen. Etwas weiter von der Rezeption entfernt saß ein dicker alter Mann mit Glatze, der vor sich hindöste, und in Bronstein erwachte sofort der Ermittler. Was mochte dieser Mann hier treiben? Bronstein hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als er auch schon die Antwort auf die damit verbundene Frage erhielt. Eine kaum wesentlich jüngere Frauensperson, die für Bronstein den Tatbestand einer Schabracke erfüllte, watschelte auf den Dicken zu, rief mit schriller Stimme „Ferdi, komm, wir gehen!“, worauf dieser sich umständlich erhob und seiner Gemahlin nach draußen folgte. Doch Bronsteins Hoffnung nach einem jungen, knusprigen Kurschatten erfüllte sich weit und breit nicht.
    Natürlich, so dachte Bronstein weiter, während der Portier die letzten Zeilen des Anmeldeformulars ausfüllte, könnte er auf gut Glück bei Kvitek vorbeischauen und dabei hoffen, dass dessen Tochter zugegen war, doch die junge Dame war ebenso aktiv wie wunderhübsch, sodass kaum damit gerechnet werden konnte, dass sie den Sommer beim Vater am Semmering verbringen würde. Wahrscheinlich befand sie sich in wesentlich angenehmerer Gesellschaft als der seinen gerade irgendwo an der Côte d’Azur, in Venedig oder wenigstens in München, wenn sie schon nicht die Verwandtschaft in Prag besuchte. Das Fräulein Kvitek, das wusste Bronstein aus Erfahrung, war ein lebenslustiges junges Ding, das verspürte sicher keine Lust, mit einem alten Beamten gepflegte Konversation zu treiben. Wenn er, Bronstein, also Nachschau hielt, ob in der Villa Kvitekderzeit jemand residierte, dann war seine einzige Perspektive wohl eine kultivierte Kartenpartie mit dem Hausherrn.
    „So, und jetzt noch eine kleine Unterschrift, und schon sind wir fertig.“ Der Portier schob Bronstein den Block hin, dieser malte seinen Friedrich Wilhelm auf die vorgesehene Linie und begab sich sodann zum Fahrstuhl, der ihn direkt bis vor sein Zimmer brachte. Bronstein brauchte nur noch den Gang zu überqueren, und schon stand er in seinem Quartier. Er drückte dem Pagen fünfzig Groschen in die Hand und empfahl sich.
    Bronstein öffnete die Balkontür und trat ins Freie. Frische, klare Bergluft wehte ihn an, und das überwältigende Panorama nahm ihn sofort gefangen. Ja, hier mochte man es aushalten. Genüsslich zündete er sich eine „Donau“ an und lehnte sich ans Geländer, einfach nur schauend und einen Moment innerer Zufriedenheit auskostend. Er spürte, wie die Anspannung der letzten Tage von ihm abfiel. Hier stand er nicht unter Beobachtung, hier konnte er ganz er selbst sein, ohne andauernd überlegen zu müssen, was wer von ihm erwartete oder einforderte. Ja, man konnte seine überstürzte Abreise aus Wien durchaus eine Flucht nennen, aber er hatte die richtige Entscheidung getroffen. Hier, in den Wäldern des Semmerings, würde er zur Ruhe kommen und seine Gedanken ordnen können.

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