Tacheles
die Zigarette ausgedämpft hatte, faltete er die Hände auf seinem Bauch, lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Er musste tatsächlich eingenickt sein, denn als er wieder nach draußen sah, da hatte sich die Gegend grundlegend geändert. Dichte Baumreihen kündeten davon, dass er sich schon recht weit im Süden befand, und so etwas wie freudige Erwartung machte sich in ihm breit. Er würde heute noch eine kleine Runde durch die Wälder drehen, das würde ihn bestimmt auf andere Gedanken bringen. Und eben passierte der Zug den Bahnhof Gloggnitz. Keine dreißig Minuten mehr musste er sich gedulden, dann würde er am Bahnhof Semmering aussteigen können, wo fraglos schon ein Wagen des Hotels auf ihn warten würde, um ihn die paar hundert Meter zum „Panhans“ zu kutschieren. Und wer weiß, vielleicht gab es dort auch die eine oder andere einsame Frauensperson, mit der man sich ein wenig unterhalten konnte. Es wäre jedenfalls kein Fehler, ein wenig nach Konversationsthemen zu suchen, dachte Bronstein bei sich, während sich der Zug an Schlöglmühl vorbei in Richtung Payerbach-Reichenau bewegte. Die Strecke wand sich nun allmählich das Gebirge hinauf, und dementsprechend bizarrer nahm sich die Landschaft aus. Die Steigung nahm mehr und mehr zu, die damit verbundene Anstrengung war der Lokomotive förmlich anzumerken, denn das Fahrttempo verringerte sich deutlich. Der Wechsel von Tunnels und atemberaubenden Blicken auf eine überwältigende Landschaft versetzte Bronstein in Begeisterung. Er war aufgestanden, hatte auch schon sein Jackett angezogen, in dessen Außentasche er achtlos die „Maria Stuart“ steckte, und stand nun mit angemessener Ehrfurcht vor dem Fenster, um sich nichts von dem beeindruckenden grünen Gebirgspanorama entgehen zu lassen.
Endlich wurde die Trassenführung wieder flacher, und der Schaffner, der eben vorüberkam, verkündete, dass man in fünfMinuten den Bahnhof Semmering erreichen werde. Bronstein nahm seine Tasche und trat aus dem Abteil. Er steckte seinen Kopf aus dem Gangfenster und sah, wie sich die Zahl der Gleise vermehrte. Links von ihm stand eine abgestellte Garnitur, die den Blick auf das Ghega-Denkmal verwehrte. In einiger Entfernung erkannte er schon das Bahnhofsgebäude, vor dem sich der Fahrdienstleiter mit seiner roten Mütze bereits postiert hatte. Einige Fahrgäste standen gleichfalls auf dem Bahnsteig, offensichtlich gewillt, ins Steirische überzusetzen, fuhr doch der Zug noch nach Mürzzuschlag, Bruck an der Mur und schließlich weiter nach Graz.
Bronstein kontrollierte, ob sein weißer Leinenanzug auch gut saß, und bedauerte einen Moment, keine Kopfbedeckung mitgenommen zu haben. Mit einem modischen Hut hätte er sicherlich einen noch besseren Eindruck hinterlassen. Dafür hätte er gut auf das Gilet verzichten können, das er eigentlich nur aus schlichter Eitelkeit angezogen hatte, um dahinter die leider doch beachtliche Leibesfülle zu verbergen. Er merkte, wie er schwitzte, und dieser Umstand sorgte sicherlich bei seinem hellblauen Hemd an neuralgischen Stellen für äußerst unangenehme Erscheinungen. Zudem perlten einige Tropfen auf seiner Stirn, die er eilig mit dem Stecktuch abwischte, ehe er an die Wagentür trat.
Mit einem erstaunlich heftigen Ruck kam der Zug zum Stillstand, und, wie bei der ersten Klasse üblich, stand schon ein Bediensteter der Bahn bereit, die Tür von außen zu öffnen. So elegant, wie es ihm möglich war, kletterte Bronstein aus dem Zug und sah sich um. Der livrierte Chauffeur musste vom „Panhans“ sein, und so trat er mit großer Selbstverständlichkeit auf ihn zu. Dieser wurde seiner gewahr und fragte devot: „Herr Braunsteiner?“
Bronstein überlegte, ob er den Namen korrigieren sollte. War es eine bloße Unachtsamkeit des Fahrers oder doch einebeabsichtigte Spitze gegen seine Abstammung? Er merkte, wie er allmählich allzu misstrauisch wurde. Viel zu lange hatte er diese Frage konsequent ignoriert, hatte Antisemitismus für ein Problem gehalten, mit dem nur orientalische Flickschuster auf der Mazzesinsel oder orthodoxe Rabbis aus der Seitenstettengasse konfrontiert waren, doch gerade der Fall Demand hatte ihm drastisch vor Augen geführt, dass der Antisemitismus förmlich zu einer Volkskrankheit geworden war. Dennoch würde er nichts erreichen, wenn er den Fahrer jetzt kujonierte. Es war nicht sinnvoll, jede Schlacht zu schlagen, gerade in Zeiten wie diesen musste man sich seine Kräfte einteilen und überlegt
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