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Tacheles

Tacheles

Titel: Tacheles Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Pittler
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Hier war es möglich, wieder zur alten Form zurückzufinden.
    Er hatte sich ja selbst nicht mehr leiden können in diesen letzten Tagen. So viele Eigenschaften waren ihm an sich selbst aufgefallen, die so gar nicht zu ihm passten. Er neidete Cerny seine Familie, seinen Esprit, seinen Charme, er verliebte sich Hals über Kopf in ein junges Ding, das ihm in den hellsten Farben schimmerte, um im erstbesten Augenblick, als nur die Möglichkeit auftauchte, es könnte von einer gewissen Leichtlebigkeit sein, sofort allen Glanzes verlustig zu gehen. Er ließ sich von einer Hausmeisterin zu wilden Liebesspielenüberreden, mit dem Effekt, dass er jetzt mehr an sie als an das junge Ding dachte. Weil sie ihn erhört hatte? War er tatsächlich so am Ende, dass er begierig nach jedem Strohhalm griff, der sich ihm irgendwo bot? Und warum stand er wie ein bornierter Ochse vor einem Fall, völlig ratlos, wo er doch in früheren Jahren stets so souverän alle Probleme angegangen war? Lag es wirklich an seinem Alter? War sein fünfzigster Geburtstag der Gipfel gewesen, von dem aus dann der unerbittliche Abstieg begonnen hatte? Es konnte doch auch jetzt nicht so schwer sein, die einzelnen Problemkreise zu ordnen und dann systematisch zu analysieren. Er, Bronstein, zählte noch nicht zum alten Eisen. Er war immer noch ein guter Ermittler. Und das würde er allen beweisen. Vor allem sich selbst.
    Bronstein richtete sich wieder auf, schnippte die Zigarette über das Balkongeländer und trat ins Innere seines Zimmers. Er sah sich noch einmal um, dann verließ er sein Quartier und begab sich zurück in die Lobby, von wo aus er ins Freie trat. Er bog links ab und marschierte auf die alte Kapelle zu. Von früheren Aufenthalten wusste er, dass von dort ein Pfad nach oben führte, der einen in ein bis zwei Wegstunden zu einer Hütte brachte, wo man sich stärken konnte. Bronstein beschloss, sich diese Distanz noch zutrauen zu können, und startete seinen Aufstieg.
    Zu Anfang erwies sich die Steigung als leicht, und Bronstein kam eigentlich nicht ins Keuchen. Er blickte immer wieder auf, um sich die Gegend zu besehen, doch die meiste Zeit sah er einfach nur auf den Boden vor seinen Füßen und versuchte, seine Überlegungen zum Fall Demand zu systematisieren.
    Er weigerte sich, Podlaha und seinesgleichen als mögliche Verdächtige gelten zu lassen. Für ihn gab es eigentlich nur zwei Kreise von Verdächtigen. Die jungen Demands auf der einen Seite, die Nazis auf der anderen Seite. Die einen hatten ein Alibi, das sie sich allerdings wechselseitig selbst gaben, die anderenhatten – Moment! Bronstein blieb abrupt stehen. Konnte das wirklich die Möglichkeit sein? Weder er noch Cerny hattensich bislang die beiden Nazis vorgenommen! Was war mit denen? Hatten die überhaupt ein Alibi? Wie hatten die noch gleich geheißen? Bronstein überlegte einen Augenblick, dann fiel es ihm wieder ein: Kotzler und Murer! Warum hatten sie die noch nicht einmal verhört? Das musste er unbedingt sofort nachholen, wenn er erst wieder in Wien war. Ein komplettes Bild ergab sich erst, wenn man alle Teile beisammenhatte, erinnerte er sich an eine alte Ermittlerweisheit, und dieser Teil war fraglos ein besonders wichtiger.
    Bronstein atmete zufrieden durch. Einen ersten Erfolg hatte er schon erreicht. Es war ja doch von Vorteil, mitunter etwas Abstand zu gewinnen, denn aus größerer Entfernung hatte man einfach einen besseren Überblick, erkannte die Zusammenhänge und verbiss sich nicht sinnlos in ein Detail.
    Bronstein hatte eine Kehre erreicht, an der eine Waldschneise einen neuerlichen Blick auf das Tal bot. Mit einem Mal kam ihm die Landschaft noch viel schöner vor. Eigentlich stand er kurz vor dem Ziel. Entweder die beiden nationalsozialistischen Rüpel würden sich als die Schuldigen erweisen, dann würden sie beim Verhör auch recht rasch niederlegen, denn solche Kerle waren zumeist keine Steher, oder er würde es doch mit glamourösen Tätern zu tun haben, mit dem Juniorchef, seinem verschlagenen Prokuristen und der ach so unschuldigen Witwe. Vor Bronsteins Auge erstand eine ganze Galerie shakespeareischer Figuren, er mischte „Hamlet“ mit „Othello“, die Demand glich der Gertrud, der Juniorchef dem Claudius, und dazu kam der hinterhältige Jago. Und er war Fortinbras, der Rächer, der am Ende obsiegen würde. Bronstein erheiterte dieser Gedanke und er stellte sich, mitten im Wald, in Pose. Gleich danach jedoch blickte er sich sorgsam um, ob ihn nicht

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