Tacheles
nichts getan werden können. Umso besser, dachte Bronstein, wenigstens konnte er sich auf ein freies Wochenende freuen.
XV.
Montag, 23. Juli 1934
Richtiggehend vergnügt erschien Bronstein Punkt acht Uhr morgens an seinem Arbeitsplatz. Er hatte, immer noch hochzufrieden mit seiner Theorie, ein traumhaft schönes Wochenende verbracht. Am Samstag war er nach Baden gefahren, wo er das anhaltend schöne Sommerwetter dazu benutzt hatte, ein wenig im Kurpark zu spazieren und sich eines der dortigen Konzerte anzuhören, und am Sonntag war er die Prater Hauptallee entlanggewandelt, um schließlich, wie schon vor drei Wochen, im Lusthaus einzukehren.
Und genau dort hatte er erkannt, dass durch den Zwischenfall mit Murer doch einiges in seinem Leben verändert worden war. Er hatte sich nicht mehr nach irgendwelchen Frauen umgesehen, er war einfach dagesessen, hatte seinen Kaffee getrunken und die Wolken beobachtet, wie sie ihre Bahnen am Firmament zogen. Und in diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er seit einer Ewigkeit keine Zeitung mehr gelesen hatte. Er war gleichsam auf Entzug gewesen und nun trocken. Unwillkürlich war ihm ein Gedicht von Eugen Roth eingefallen, das ihm einmal irgendwo in einem Journal untergekommen war: „Ein Mensch, der Zeitung liest, erfährt: ,Die Lage völlig ungeklärt‘. Da dies seit Adams Zeiten so gewesen, wozu dann noch die Zeitung lesen?“ Bronstein überlegte sogar, ob es die Verse dieses Münchners auch als Buch gab, doch dann dachte er daran, dass diese Entwicklung sein gesamtes morgendliches Ritual ändern würde. Was sollte er im Café Herrenhof am Morgen tun, wenn er nicht mehr zur Zeitung griffe? Er gab sich selbst die Antwort. Künftig würde er stets ein gutes Buch bei sich führen und auf die Lektüreder diversen Morgenblätter verzichten. Es gab ohnehin so viele Werke, die es noch zu lesen galt – erst unlängst hatte ihm Cerny einen tschechischen Romantiker, hieß er nicht Hynek Mácha?, empfohlen –, und so nahm er sich, während er vom Lusthaus wieder nach Hause wanderte, vor, gleich am nächsten Arbeitstag ein Buch statt einer Zeitung zur Hand zu nehmen.
Im „Herrenhof“ hatte der Ober sichtlich gestaunt – wenngleich er kein Wort darüber verlor –, dass der Oberst die bereitgelegten Zeitungen keines Blickes würdigte. Bronstein genoss diesen Überraschungseffekt und vertiefte sich in den Fontane, den er am Morgen aus seiner kleinen Bibliothek geholt hatte.
Und als er an seinem Schreibtisch Platz nahm, da legte er den Band demonstrativ neben sich auf die Schreibfläche. Sollte Cerny ruhig sehen, dass sein jahrelanges Bemühen, aus ihm einen Intellektuellen zu machen, endlich Früchte trug. Bronstein konnte es kaum erwarten, dass Cerny im Büro erschien. Einen Augenblick überlegte er sogar, ob er nicht einfach die Lektüre fortsetzen sollte, damit Cerny ihn lesend antraf. Doch das wäre, dachte Bronstein, vielleicht doch des Guten etwas zu viel. Immerhin war er Beamter, und als solcher las man in der Dienstzeit ausnahmslos Akten. Also ließ er das Buch dort, wo er es hingelegt hatte, und vertiefte sich in das Dossier über Kotzler und Murer.
Als Cerny zehn Minuten später eintraf, ging er an seinen Platz, setzte sich und wartete, bis ihn der Oberst ansprach. Dieser wiederum registrierte enttäuscht, dass Cerny offenbar nichts bemerkt hatte. Am liebsten hätte er an dieser Stelle das Buch genommen, es in der Luft hin- und hergeschwenkt und gerufen: „Siehe, ich lese!“ Doch ein solches Verhalten war natürlich unmöglich. Nein, derlei musste auf delikatere Weise ins Werk gesetzt werden. Bronstein wusste nur noch nicht, wie.
„Wann machen wir denn das Verhör?“ Cerny durchbrach die Stille.
„Von mir aus jederzeit“, antwortete Bronstein und widerstand der Versuchung, „damit ich schneller wieder zu meinem Fontane komme“, hinzuzufügen.
„Gut, dann rufe ich gleich einmal an, dass sie uns die beiden Spitzbuben ins Verhörzimmer bringen. Dort sollen sie einmal ein wenig dunsten, bis wir sie uns dann vornehmen.“
Bronstein nickte und unterdrückte ein Lächeln. Er würde, wenn sie das Büro verließen, das Buch mitnehmen und es beim Versuch, es in die Sakkotasche zu stecken, unglücklicherweise fallen lassen. Cerny als fleischgewordene Höflichkeit würde es ihm aufheben und dann unabwendbar etwas sagen müssen. Bronstein war rundum zufrieden mit seinem Plan und dachte gar nicht weiter an das Verhör. Vielmehr wartete er einfach darauf, dass Cerny das
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