Tag der Buße
eine Plastiktüte. Am Verbrechensschauplatz wimmelte es von Leuten – ein Arzt aus dem gerichtsmedizinischen Institut, Spurensicherungsleute, Labortechniker, ein Fotograf und die Uniformierten, die die Meldung entgegengenommen hatten. Ihre Gesichter hatten die Farbe von zu lange gekochten Erbsen. Hinter sich hörte er jemanden seinen Namen rufen. Er stand auf, drehte sich um und sah sich überrascht einem Mann gegenüber, der mit ihm auf einer Augenhöhe war. Der Typ war genauso groß wie er.
»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«
Decker stellte sich vor.
Cleveland schüttelte ihm die Hand, musterte ihn eingehend und sagte, ohne nachzudenken: »Haben Sie mal in einer Profimannschaft gespielt, Pete?«
»Nein. Warum? Sie?«
»Nein, aber ich wünschte, ich hätt’s. Ehrlich gesagt würd’ ich alles lieber tun als das, was ich jetzt tu’.« Cleveland bemerkte den fassungslosen Ausdruck in Deckers Gesicht und wischte sich die Schweißperlen von seiner mokkafarbenen Stirn. »Das ist kein gewöhnlicher Mord. Deshalb sind so viele Leute hier.«
»Mann, das ist ja entsetzlich«, sagte Decker.
Er ließ seinen Blick über die Gasse schweifen. Ein Schlachthaus. Gott sei Dank wehte ein kühler Wind und sorgte für etwas frische Luft.
Decker zwang sich, die Leiche anzusehen. Der Fotograf nahm Bilder auf. Die Leiche lag auf dem Rücken, als ob man sie für eine groteske Operation vorbereitet hätte. Das Gesicht war unverletzt, keine Messerspuren, keine Einschüsse. Harrows Augen waren noch offen, immer noch erstarrt von dem Schock. Braune Augen. Große runde braune Augen. Harrow hatte volle Wangen, obwohl er oben keine Zähne hatte. Er lag friedlich da, das Rückgrat gerade, die Arme seitlich vom Körper, die Beine ausgestreckt nebeneinander.
Decker betrachtete die Leiche genauer. Die Kehle war durchgeschnitten, der Brustkorb ein klaffendes Loch voller braunem geronnenem Blut. Man hatte ihm die Eingeweide entfernt. Sein Bauch war vollkommen leer. Decker konnte die Nieren des Mannes sehen – völlig intakte Nieren. Mit einem Ruck wandte er den Kopf ab.
Der Mord hatte in der Gasse hinter einem der exklusivsten Restaurants in West Hollywood stattgefunden – ein Nachtlokal, in dem häufig Filmstars verkehrten und das für seine hohen Preise bekannt war. Während die erlesenen Gäste dort drinnen Lachs-Carpaccio und Ziegenkäse-Mousse speisten, war dieser arme Mann hier draußen von einem verdammten Psychopathen zerfetzt worden. Bei dem Gedanken wurde ihm ganz übel.
Decker hätte sich am liebsten einfach umgedreht und wäre nach Hause gegangen. Er stand etwa drei Meter von der Leiche entfernt, und selbst hier war noch ein großer dunkler Fleck, wo Blut hingespritzt war. Das Monster mußte Harrow die Hauptschlagader durchtrennt haben, als dieser noch am Leben war. Sonst hätte das Blut nie so weit gespritzt.
Hatte Noam bei diesem schaurigen Mord mitgemacht? Decker wollte das einfach nicht glauben. Hersh war derjenige, der gerne mit Messern spielte. Es war Hersh, der am liebsten Fische ausnahm, wenn sie noch lebten. Noam konnte einfach nicht freiwillig bei so einem Gemetzel mitgemacht haben. Was mochte Noam bloß gedacht haben, als Hersh diesem bedauernswerten Mann das antat? Decker spürte die entsetzliche Panik, die der Junge – wie er hoffte – empfunden haben mußte.
Hersh hatte endgültig sein wahres Gesicht gezeigt. Noam mußte Angst um sein Leben haben.
Falls Noam überhaupt noch am Leben war.
Psychopathen sind nämlich Einzelgänger.
Decker unterdrückte eine plötzliche Übelkeit und redete sich ein, daß Noam noch lebte und Hilfe brauchte. Er mußte bei seinen Eltern anrufen und ihnen raten, sich sofort einen Anwalt zu nehmen. Zu Cleveland gewandte sagte er: »Ich hab’ schon Leichen in schlimmerem Zustand gesehen – Mordopfer, die den Elementen ausgesetzt gewesen waren. Sie sind zwar kein angenehmer Anblick, aber das ist Natur. Doch bei diesem Mann hier hab’ ich Probleme hinzugucken, obwohl das Gesicht unversehrt ist. Ich glaube, ich habe noch nie einen so kaltblütigen Mord gesehen. Dem Täter hat diese Metzelei offenbar Spaß gemacht.«
»Genau mein Gedanke, Pete«, sagte Cleveland. »Soweit wie das Blut gespritzt ist, wurde das Opfer vermutlich zuerst in Brust und Hals gestochen und ist dann an Blutverlust gestorben. Wenn die Hals- oder die Hauptschlagader getroffen wird, verblutet man innerhalb weniger Minuten. Ausgenommen wurde er vermutlich hinterher.« Cleveland schüttelte angewidert den
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