Tag der Buße
Hause beim Mittagessen sein.«
»Ein gutes Argument«, räumte Ezra ein. »Also gehen wir erst in die Schul, und dann bring ich Sie zu den einzelnen Familien.«
Decker war einverstanden.
Ezra fuhr mit einer Fußspitze über den Boden. »Und was sag ich, wenn die Leute mir Fragen stellen?«
»Das müssen Sie wissen. Sie müssen gar nichts sagen, wenn Sie nicht wollen.«
»Dann denken sie, ich würde etwas vor ihnen verbergen.«
»Ezra, in einer solchen Situation brauchen Sie sich keine Sorgen darüber machen, was die Leute denken. Außerdem scheinen Sie sehr nette Nachbarn zu haben. Rina hat schon ungefähr ein Dutzend Angebote von Frauen bekommen, die helfen wollen …«
»Was hat sie ihnen erzählt?«
»Nichts. Sie hat gesagt, wir hätten alles im Griff.«
»Aber das haben wir doch nicht.« Ezra begann, auf und ab zu gehen. »Er wird immer noch vermißt.«
»Zumindest haben wir einen Plan.«
»Und die Polizei sucht nach ihm?« fragte Ezra.
»So gut sie kann. Es ist zwar keine Sache von höchster Priorität, aber sie halten die Augen offen.« Decker zögerte, dann sagte er. »Sie haben nicht vielleicht doch irgendeine Ahnung, wo Noam hingegangen sein könnte?«
»Ich hab mir die ganze Nacht den Kopf darüber zerbrochen«, sagte Ezra. »Er ist bisher noch nie aus Boro Park verschwunden. Sicher ist er schon häufiger mal irgendwo hingegangen und hat vergessen, seiner Mutter Bescheid zu sagen. Aber so was ist noch nie vorgekommen. Soweit ich weiß, ist er noch nie außerhalb von Brooklyn gewesen.«
Das ist ein Teil des Problems, sagte Decker zu sich. Der Junge ist zu behütet. Dann dachte er: Sei nicht so verdammt voreingenommen. So was könnte in jeder Familie passieren. Seine Gedanken schweiften zu Cindy. Wie froh konnte er sein, eine so wunderbare Tochter zu haben. Er war ein guter Vater, wenn es auch sicher bessere gab. Als sie klein war, hatte er oft Überstunden gemacht und war häufig nicht zu Hause gewesen. Aber er hatte versucht, immer da zu sein, wenn sie ihn brauchte, oder hinzugehen, wenn sie in einem Theaterstück in der Schule mitspielte. Er hatte sogar mal im Rahmen einer Veranstaltung über die Berufe der Eltern einen Vortrag vor ihrer Klasse gehalten. Alle ihre Mitschüler fanden es cool, daß er sie in seinem Streifenwagen mitgenommen hatte. Er konnte sich an ihr Gesicht erinnern – ihre Augen hatten regelrecht gestrahlt.
Er kehrte mit seinen Gedanken in die Gegenwart zurück und sagte: »Ich habe letzte Nacht mit einer Menge Jungs aus Brooklyn gesprochen. Außerhalb von Boro Park scheint niemand Noam zu kennen.«
»Genau wie ich gesagt hab. Ich hoffe nur inständig, daß Sie recht haben und er wirklich ausgerissen ist. Wenn es nämlich anders …«
»Ich kann es nicht garantieren, aber große kräftige Jungen von vierzehn Jahren werden normalerweise nicht entführt, es sei denn, es ginge um ein Lösegeld …«
»Ich bin kein reicher Mann«, sagte Ezra. »Ich arbeite als Buchhalter in einem Sportartikelgeschäft, und Breina unterrichtet ein bißchen, hier an der Mädchenschule. Wir kommen zwar zurecht, aber wir besitzen nichts weiter als das Haus. Wer würde jemanden für ein Haus entführen?«
»Was ist mit Ihren Eltern oder Ihren Geschwistern?«
»Da ist niemand besonders reich. Mein Bruder Shimmy hat ein ganz gutes Einkommen, aber er ist bei weitem kein Millionär. In der Gemeinde hier gibt es viel reichere Leute, bei denen was zu holen wäre.« Ezra seufzte. »Es sieht also übel aus.«
»Er ist erst eine Nacht verschwunden, Ezra«, sagte Decker. »Es gibt noch keinen Grund, das Schlimmste zu befürchten.« Er wollte schon den Vorschlag mit dem Privatdetektiv machen, doch der Blick in Ezras Augen hielt ihn davon ab. Und die bescheidenen Worte: Ich bin kein reicher Mann.
»Sie verstehen es, die Leute zu beruhigen, Akiva«, sagte Ezra. »Ohne einem falsche Hoffnungen zu machen … einfach durch Ihre ruhige Art.« Er holte tief Luft, dann sprudelten die Worte förmlich aus ihm heraus. »Ich war gestern ziemlich unverschämt …«
»Bitte …«
»Nein«, fuhr Ezra fort. »In zehn Tagen ist Jom Kippur. Ich möchte Sie bitten, mir zu verzeihen.«
Seine Stimme klang so wehleidig. Laß das mit dem verdammten Privatdetektiv erst mal, dachte Decker. Das war nicht der richtige Zeitpunkt. Es hatte keinen Sinn, Ezra zu sagen, daß es nichts zu verzeihen gab. Für ihn war Vergebung der erste Schritt, um seine Seele zu läutern.
»Natürlich verzeihe ich Ihnen«, sagte Decker. »Und
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