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Tag der Buße

Titel: Tag der Buße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Faye Kellerman
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denken. Den Weisen, den Einfältigen, den, der noch nicht mal weiß, wie man eine Frage stellt. Und den Rescha, den gottlosen Sohn.
    Nein, das war furchtbar. Wie konnte er nur wagen, so etwas zu denken? Noam war kein Rescha, nur ein verwirrter Junge, der etwas mehr Führung als die anderen brauchte. Mehr Aufmerksamkeit.
    Das hatten ihm zumindest die Rabbis in der Schule gesagt. Sie hatten Breina und ihn eines Tages zu sich gebeten, sie auf zwei Klappstühlen Platz nehmen lassen und sie mit ernsten Blicken angesehen. Der älteste von ihnen, Rav Leider, hatte als einziger gesprochen. Die anderen hatten nur zustimmend zu allem genickt, was er sagte.
    Er ist ein Junge mit vielen Problemen. Er kann zwar lernen, aber anscheinend will er nicht. Außerdem lenkt er die anderen Jungen vom Lernen ab. Für uns ist ganz klar, daß er mehr Aufmerksamkeit braucht.
    Ezra konnte immer noch spüren, wie sich die Augen von Rav Leider in ihn hineinbohrten.
    Mehr väterliche Aufmerksamkeit. Sie müssen mit ihm lernen.
    Ezra hatte es versucht. Er hatte sich mit Noam auf den Sanhedrin geeinigt, einen sehr schwierigen Traktat des Talmud. Er hatte seine Zweifel gehabt, aber Noam hatte beharrlich behauptet, es würde ihn interessieren zu erfahren, wie das Rabbinische Hohe Gericht Kapitalverbrechen bestraft. Doch nach der dritten Sitzung hatte Noam angefangen, Theater zu machen, hatte Fragen gestellt, auf die es keine Antworten gab.
    Wenn Haschem alles erschaffen hat, wer hat dann Haschem erschaffen?
    Haschem hat keinen Schöpfer, hatte Ezra erklärt. Haschem war immer und wird immer sein.
    Das ergibt doch keinen Sinn.
    So ist es aber, Noam.
    Deshalb ergibt es trotzdem noch keinen Sinn.
    Was hatte es für einen Sinn, sich darüber zu streiten? Also hatte er aufgehört, mit Noam zu diskutieren. Ein weiterer Fehler. Noam hatte immer dümmere Fragen gestellt. Zum Beispiel wieviel Moses Malone im Jahr verdiente. Er hatte ihm so sehr die Freude am Lernen verdorben, daß Ezra in seiner Verzweiflung die Beherrschung verloren hatte. Doch Noam schien das überhaupt nicht aus der Fassung zu bringen, er hatte sogar glücklich gewirkt.
    Dann hatten sie aufgehört, zusammen zu lernen. Ein großer Fehler. Er mußte Haschem für sein Versagen als Vater um Vergebung bitten.
    Ohne nachzudenken begannen seine Lippen sich in einem stummen Gebet zu bewegen – Tehillim – die Psalmen Davids. Es war so natürlich für ihn, daß die hebräischen Worte einfach aus seinem Unterbewußtsein nach oben stiegen. Er hatte Tehillim für Breinas Mutter gesprochen, zwei Tage bevor sie ihrem Krebsleiden erlag. Er hatte Tehillim an dem Tag gesprochen, als sein Vater sich einer doppelten Bypass-Operation unterzogen hatte, als sein bester Freund von einem Auto überfahren wurde, als seine Nichte mit einem Loch in der Lunge geboren wurde.
    Er hatte Tehillim so oft gesprochen, daß er sämtliche Psalmen auswendig kannte.
     
    Ezra erzählte Decker von dem gestohlenen Geld und Schmuck. Während Decker zuhörte, fiel ihm auf, daß Ezra seine Worte mit Bedacht wählte. Er betonte, daß es ihm nicht um das Geld ginge, er wäre sogar froh, daß sein Sohn welches in der Tasche hätte. Aber der Diebstahl könnte für Decker als Polizist wichtig sein, und da er schon so freundlich sei, ihnen in dieser furchtbaren Sache zu helfen, sollte er auch alles wissen.
    Als Ezra zu Ende erzählt hatte, bedankte er sich erst bei Decker, dann sprach er sofort ein Dankesgebet an Haschem, weil er ihnen einen jüdischen Polizisten geschickt hatte. Decker wäre als Zeichen göttlicher Intervention da, er wäre bescheert – vom Schicksal gesandt.
    Decker erschien Ezras Denkweise kindisch, aber er hatte schon oft erlebt, wie sich Leute unter Streß ganz irrational verhielten. In dem Moment bricht alle Logik zusammen …
    Ezra wollte wissen, wie der nächste Schritt aussähe.
    »Nun ja …« Decker unterdrückte ein Gähnen. »Die ganze Gemeinde weiß, daß Noam vermißt wird. Das ist gut, Ezra. Hunderte Augen arbeiten für Sie. Vielleicht kann sich jemand an etwas erinnern.«
    »Im jirtzah Haschem«, sagte Ezra.
    »Wenn Gott will …«
    »Ich möchte mich mit ein paar von Noams Freunden unterhalten«, sagte Decker. »Wir warten bis nach der Schul …«
    »Wir können auch jetzt gehen«, sagte Ezra.
    Decker schüttelte den Kopf. »Einige sind vielleicht schon in der Schul, andere schlafen vielleicht noch oder ziehen sich gerade an. Wenn wir uns nach den Gottesdiensten auf den Weg machen, sollten sie alle zu

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