Tag der Entscheidung
haben auch keine formellen Beamten außer der Kaliane, die nur die Macht hat, als Sprecherin zu wirken.«
Mara wurde durch eine Lücke im Geländer der untersten Ebene geführt. Ihre Ellenbogen streiften die Wände, deren spiralförmige Muster aus Corcara-Muscheln und Ebenholz ihr Unbehagen verursachten. Die Endpfosten waren geschnitzte Totems, mit Rüsseln, Klauen und wildem Ausdruck. Die Kreaturen waren geschuppt oder hatten Flügel aus Federn, und ihre Augen hatten die räuberische Schrägstellung einer Schlange.
Die Kaliane drängte Mara über eine beängstigend große Fläche. Es gab keine Möbel, nicht einmal Muster auf dem Boden jenseits des Kreises, der in der Mitte lag. Seine Grenze schien aus goldenem Licht zu bestehen, zweifellos die Wirkung irgendeiner Beschwörung. Die Lady der Acoma war sich der vielen Stockwerke bewußt, von denen jetzt Gestalten ihre Blicke auf sie richteten, und sie fühlte sich wie ein Opfer vor einem Ritual, das ihr Schicksal endgültig besiegeln würde.
»Hier.« Die Kaliane deutete auf den magischen Kreis. »Tretet ein und bleibt dort stehen, wenn Ihr genug Mut habt, über Euch urteilen zu lassen. Doch seid gewarnt, Lady Mara, Gute Dienerin des Kaiserreiches. Lügen und Täuschungen sind unmöglich für jene, die die Linie überschritten haben.«
Mara warf ihre Haare zurück, die wegen der fehlenden Pflege einer Zofe lose auf die Schultern fielen. »Ich fürchte die Wahrheit nicht«, sagte sie kühn.
Die Kaliane lockerte ihren festen Griff. »So sei es«, sagte sie. Beinahe lag so etwas wie Mitleid in ihren Augen.
Mara ging ohne zu zögern auf die Linie zu. Sie fürchtete die Wahrheit nicht in dem Augenblick, da sie den Fuß hob, um die Grenze aus gelbem Licht zu übertreten. Doch in diesem Moment fühlte sie sich von einer Kraft durchdrungen, die ihr den Willen raubte, und als ihr Fuß den Boden auf der anderen Seite des Beschwörungsbanns berührte, war jede Spur von Selbstsicherheit von ihr gewichen.
Sie war halb auf der anderen Seite und konnte nicht zurück. Der Teil ihres Körpers, der innerhalb des Beschwörungskreises lag, war gebannt, als wäre er angekettet. Sie hatte keine andere Wahl, als auch das andere Bein zu heben und ganz einzutreten, obwohl gerade dies sie jetzt jenseits aller Gedanken ängstigte.
Die Hilflosigkeit bekam eine neue Bedeutung. Ihre Ohren hörten keine Geräusche, ihre Augen sahen nichts als das golden schimmernde Netz der Macht. Sie war körperlich unfähig, sich zu bewegen, sich hinzusetzen oder die Arme über der Brust zu verschränken, um das Pochen ihres rasenden Herzens zu bezwingen. Die Sklaverei selbst schien wie eine Form der Freiheit gegenüber der Magie, die sie in die Schranken verwies; selbst ihre Gedanken wurden gefangengenommen. Mara kämpfte gegen ihre Verzweiflung an, selbst als jemand von ganz oben in der Galerie eine Frage herunterrief.
Die Kaliane wiederholte die Frage in tsuranischer Sprache. »Lady der Acoma, Ihr seid hergekommen und bittet um Macht. Ihr behauptet, sie zur Verteidigung zu benutzen, zur Unterstützung des allgemeinen Guten. Zeigt uns, wie Ihr zu dieser Überzeugung kommt.«
Mara wollte einatmen und zur Antwort ansetzen, doch sie konnte nicht. Ihr Körper verweigerte sich ihrem Wunsch; Magie hielt sie vom Sprechen ab. Panik machte sie wütend. Wie konnte sie ihre Ziele verteidigen, wenn der Bann sie am Sprechen hinderte? Im nächsten Augenblick begriff sie, daß auch ihre Gedanken sich ihrer Kontrolle entzogen hatten. Ihr Verstand schien sich zu überschlagen, sich wie eine Spielzeugwindmühle zur Freude von Kindern herumzudrehen. Erinnerungen strichen an ihrem inneren Auge vorbei, und sie war nicht länger in der Halle der Magier in Dorales in einem magischen Kreis. Sie saß in ihrem Arbeitszimmer im alten Herrenhaus der Acoma und stritt heftig mit Kevin, dem Barbaren.
Die Illusion seiner Gegenwart war so real, daß der winzige Teil von Maras Verstand, der noch ein eigenes Selbstbewußtsein besaß, sich nach Schutz in seinen Armen sehnte. Mit einem zunehmenden Gefühl der Beklommenheit begriff sie das wahre Ziel des Wahrheitsbanns der Thuril: Es würde ihr nicht gestattet sein, verbal auf die Fragen zu antworten.
Diese Magier würden fragen und die Antworten direkt aus ihrem Bewußtsein holen. Sie würde keine Gelegenheit erhalten, sich zu rechtfertigen, den Ausgang jedes Ereignisses mit Erklärungen zu begründen. Diese Magier würden ihre Handlungen sehen, wie sie geschahen, und danach urteilen.
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