Tag der Entscheidung
Sie wurde tatsächlich vor ein Gericht gestellt, und ihre einzige Verteidigung waren die Taten, die sie in ihrem Leben begangen hatte.
Mara begriff all dies genau in dem Augenblick, bevor der Bann sie ganz ergriff, und dann war sie in dem Arbeitszimmer an diesem lang zurückliegenden Tag mit Kevin, sah ihn in hitziger Wut an, als er schrie: »Du stößt mich herum wie eine Schach … wie eine Shahnfigur! Hierhin! Dorthin! Jetzt wieder hierhin, weil es dir gefällt, aber niemals ein Wort des Warum, niemals eine Sekunde der Vorwarnung! Ich habe getan, was du verlangt hast –nicht aus Liebe zu dir, sondern um das Leben meiner Landsleute zu retten.«
Dann antwortete Mara, das Gesicht rot vor Verzweiflung: »Aber ich habe dich zum Sklavenaufseher befördert und dir erlaubt, dich um deine midkemischen Kameraden zu kümmern. Du hast mit Hilfe deiner Autorität dafür sorgen können, daß es ihnen gutging. Ich sehe, daß sie außer dem üblichen Thyza-Brei Jiga-Vögel, Needra-Fleisch, frisches Obst und Gemüse gegessen haben.«
Weiter zogen die Erinnerungen an ihr vorbei, so real wie in dem Augenblick, da sie geschahen, bis zur strahlenden Leidenschaft am Ende. Schmerzlich berührt von der Orientierungslosigkeit entfaltete sich ihre Beziehung mit Kevin in einer Begegnung nach der anderen, jeder Tag bittersüß vor Freuden und Enttäuschungen und anstrengenden Lektionen. Als sie jetzt gezwungen war, einen Blick zurückzuwerfen, erkannte sie ihre eigene engstirnige Arroganz; es war ein Wunder, daß der Sklave Kevin überhaupt irgend etwas in ihrer offensichtlichen Hartherzigkeit gesehen hatte, daß er sie lieben konnte! Die Tage entrollten sich in torkelnden Sprüngen, als die Magier ihre Erinnerungen beeinflußten. Wieder ertrug sie den Schrecken, als in der Nacht der Blutigen Schwerter eine Welle von Attentätern nach der anderen aus ihrer Stadtwohnung zurückgeschlagen wurde. Wieder stand sie auf einem vom Butana-Wind umtosten Hügel und diskutierte mit Tasaio von den Minwanabi. Sie sah, wie Kaiser Ichindar den Amtsstab des Kriegsherrn brach und sie selbst den Titel der Guten Dienerin des Kaiserreiches erhielt.
Und sie sah Ayaki noch einmal sterben.
Barmherzigerweise folgte eine andere Frage, und die Szenerie änderte sich; sie befand sich in der wohlriechenden Nachmittagshitze in einem Kekali-Garten, und Arakasi hatte sich ehrerbietig vor ihr ausgestreckt und bat darum, sich das Leben nehmen zu dürfen. Wieder genoß sie zusammen mit Lord Chipino in seinem Kommandozelt während des Feldzuges gegen die Wüstensöhne von Tsubar die duftende, trockene Abendluft.
Die Zeit wirbelte vorbei, drehte sich, fuhr zurück; eine Szene überlagerte die andere. Manchmal wurde sie zurück in ihre Kindheit geschickt oder in die stillen Meditationshallen in Lashimas Tempel. Zu anderen Zeiten erlitt sie die Brutalitäten ihres ersten Ehemannes. Wieder stand sie vor seinem trauernden Vater, der sich über seinen eingewickelten Enkel beugte, der jetzt ebenfalls tot war, durch genauso verräterische Mittel.
Mit schmerzlichen Gefühlen erfuhr sie noch einmal ihre Beziehung zu Hokanu. Durch die Augen der Thuril-Magier begriff sie, daß seine seltene Wahrnehmungsfähigkeit tatsächlich von einem unerfahrenen Talent herrührte. Bei einer kleinen Änderung des Schicksals hätte er Mitglied der Versammlung werden können statt der Ehemann an ihrer Seite. Wieviel ärmer ihr Leben ohne ihn gewesen wäre, dachte sie. Ein Teil ihres Herzens quälte sich wegen der Entfremdung, die zwischen ihnen entstanden war, und zwischen den Manipulationen des Wahrheitsbanns schwor sie, das Mißverständnis, das seit Kasumas Geburt zwischen ihnen herrschte, auszuräumen.
Schließlich fand sich Mara in Hotabas Langhaus wieder, als sie sich weigerte, ihre Dienerin Kamlio herzugeben, um ihren Geschäften nachgehen zu können. Etwas durchdrang sie forschend wie eine Nadel, fand jedoch nur Aufrichtigkeit in ihrem Herzen.
Die durch den Bann aufgerollten Erinnerungen kamen langsamer, und Worte drangen hindurch, ohne daß sie wußte, wer sie gesprochen hatte. Sie waren in Thuril, und doch verstand sie ihre Bedeutung.
Die eine Stimme sagte: »Sie unterscheidet sich tatsächlich von den anderen Tsuranis: indem sie Ehre in einem Sklaven sieht, einer Dienerin das Recht auf Freiheit zugesteht, es selbst über ihre Blutsfamilie stellt.«
Die Kaliane antwortete: »Ich habe daran geglaubt, sonst hätte ich sie nicht hergebracht.«
Eine zweite Stimme folgte der ersten:
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