Tag der Entscheidung
jungen Krieger liefen trotz der Abendkühle mit nacktem Oberkörper herum, doch ein paar trugen auch feingewebte Hemden. Die Frauen kleideten sich mit langen Röcken und weiten Hemden, die jüngeren gaben kleine Blicke auf einen schlanken Arm oder ein volles Dekollete frei, um bewundernde Blicke von vorbeigehenden jungen Männern auf sich zu ziehen.
»Was ist das für ein Ort?« murmelte Mara, während sie tief den Geruch einatmete und wie ein Bauerntölpel bei seinem ersten Gang in die Stadt auf die Wunder um sich herum starrte.
»Dorales«, sagte die Kaliane. »Ihr seid möglicherweise die erste Tsurani, die diese Stadt sieht.« Ein wenig bedrohlich fügte sie hinzu: »Ihr könntet auch die letzte sein.«
Die merkwürdige Formulierung der Magierin ließ Mara erzittern. Sie hatte das Gefühl, als würde sie träumen, so fremd war ihr dieser Ort und so gewaltig wie eine Vision, die zu schön war, um wahr zu sein. Die schlanken Türme, die Tausende von hellerleuchteten Fenstern und Türschwellen, die merkwürdigen Totems und das Gedränge auf der Straße – das alles vermittelte das Gefühl von etwas Kostbarem, als könnte sie jeden Augenblick unfreiwillig in einen Alptraum gestoßen werden. Bewunderung und Unsicherheit hätten die Lady an diesem Platz festgehalten, hätte die Kaliane sie nicht mit der gleichen brüsken Ungeduld weggezogen, wie sie eine Mutter gegenüber einem zögernden Kind zeigt.
»Kommt! Der Kreis der Alten erwartet Euch, und es bringt keine Weisheit, sie warten zu lassen.«
Mara stolperte benommen weiter. »Ihr sagt, ich werde erwartet? Wieso?«
Doch die Kaliane hatte wenig Geduld für etwas, das in ihren Augen überflüssige Fragen waren. Sie zog Mara hinter sich her durch die Menge, deren Aufmerksamkeit sie erregte. Zuschauer starrten sie an und zeigten auf sie, und nicht wenige spuckten verächtlich aus. Der tsuranische Stolz veranlaßte die Lady der Acoma, solche Beleidigungen als unter ihrer Würde zu ignorieren, doch sie hatte keinen Zweifel, daß diese Leute sie als unversöhnliche Feindin betrachteten. Der schreckliche Gedanke kroch langsam in ihr hoch, daß die Kaiserlichen Lords in ihrer verächtlichen Ignoranz die Thuril zu Barbaren erklärt hatten; diese Stadt mit ihren technischen Wundern bewies ohne Zweifel das Gegenteil.
Trotz der Beschämung noch neugierig, fragte Mara: »Warum hat mein Volk niemals von diesem Ort gehört?«
Die Kaliane drängte sie an einem bemalten Wagen vorbei, der von zwei mißmutigen Querdidras gezogen und von einem verhutzelten Mann geführt wurde, der einen bunten Mantel trug. Er hatte ein merkwürdiges Musikinstrument bei sich, und Vorübereilende warfen ihm Münzen zu, oder sie baten ihn fröhlich weiterzuspielen. Er beschenkte sie dafür mit farbenfrohen, beißenden Flüchen, und auf den roten Wangen bildeten sich Grübchen vom Lachen.
»Jene aus Eurem Volk, die von diesem Ort hören würden, würde die Versammlung töten, damit sie schweigen«, erwiderte die Kaliane scharf. »Die Türme, die Ihr hier seht, und all die Meißeleien am Fels sind durch Magie entstanden. Hättet Ihr Zugang zu der Stadt der Magier in Tsuranuanni, könntet Ihr ähnliche Wunder sehen. Doch in Eurem Land behalten die Erhabenen die Wunder, die sie mit ihrer Macht bewirken können, für sich.«
Mara runzelte die Stirn und schwieg. Sie dachte an Milamber und seine Weigerung, von seinen Erlebnissen als Mitglied der Versammlung zu sprechen. Nachdem sie Zeugin der fürchterlichen Kräfte geworden war, die er in der Kaiserlichen Arena freigesetzt hatte, traf sie die Schlußfolgerung, daß die Eide, die ihn an die Versammlung banden, erschreckend stark sein mußten, um einen Mann seiner Statur zum Schweigen zu bringen. Sie wußte nichts von den Charakteren der Magier, doch von Hokanu hatte sie mitbekommen, daß Fumita kein gieriger Mann war. Mächtig, ja, und durchdrungen von Geheimnissen, doch niemand, der seine Selbstbezogenheit über das allgemeine Wohl der Nationen stellen würde.
Als könnte die Kaliane mit irgendwelchen unheimlichen Mitteln Gedanken lesen, zuckte sie unter ihrer schweren Robe mit den Schultern. »Wer weiß, warum die Magier in Eurem Land so geheimnisvoll sind? Nicht alle von ihnen sind schlechte Menschen. Die meisten sind einfach nur Scholare, die lediglich die Mysterien ihrer Fähigkeiten verfolgen wollen. Vielleicht gründeten sie ihre Bruderschaft einst, um eine Bedrohung abzuwenden oder um die wilde, gefährliche Magie von abtrünnigen Magiern zu
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