Tag der Entscheidung
»Doch geht uns das Wohlergehen der Tsuranis etwas an?«
Eine andere Stimme antwortete: »Gerecht regierte Nachbarn sind wünschenswert, und vielleicht …«
Jetzt sprach wieder jemand anderer: »Doch es gibt eine Gelegenheit, das große Unrecht wieder zu berichtigen …«
Noch mehr Worte schienen ineinander zu verschwimmen; jemand sprach von einem Risiko, jemand anderer von dem Reich der Cho-ja.
Maras Gehör versagte. Sie fühlte sich plötzlich schwach in den Knien. Dann schmolz der goldene Lichtring, der sie gefangengehalten hatte, und sie war einem Zusammenbruch nahe.
Die starken Hände der Kaliane fingen sie auf. »Lady, es ist vorbei.«
Schwach wie ein Baby und beschämt, als sie erkannte, daß sie während der Wirren des Banns geweint hatte, war Mara bemüht, die letzten Scherben ihrer Beherrschung wieder zusammenzukratzen. »Habe ich euch überzeugt?«
»Nein. Das werden wir im Laufe der Nacht diskutieren«, erwiderte die Kaliane. »Unsere Entscheidung wird Euch bei Morgenanbruch erreichen. Und jetzt werde ich Euch zu Mirana zurückbringen, die dafür sorgen wird, daß Ihr etwas Ruhe bekommt.«
»Ich möchte lieber hier warten«, protestierte Mara, doch sie hatte nicht genug Willenskraft, um sich ernsthaft zu widersetzen. Alle Kraft verließ sie, und kurz darauf spürte sie nichts mehr als eine Dunkelheit wie die Nacht zwischen den Sternen.
Vier
Die Entscheidung
Mara erwachte.
Es war dunkel; sie atmete den Geruch brennender Buchenstämme und den muffigen Gestank von Querdidra-Wolle. Holzsparren waren über ihrem Kopf, schälten sich durch das schwache rote Licht vom Herd sanft aus den Schatten heraus. Tücher bedeckten sie. Sie hielten ihre Glieder fest, als sie sich umdrehte, verwirrt darüber, wo sie war.
Ihr Kopf schmerzte. Die Erinnerungen an die Ereignisse kehrten erst langsam, dann schneller zurück, als sie den Korb sah, den Mirana vom Langhaus und der Ratsversammlung mit ihrem thurilischen Ehemann mitgenommen hatte. Jetzt erinnerte sich Mara an den Ausflug zum Brotladen und an den traumähnlichen Besuch in Dorales mit der Kaliane. Abrupt richtete sie sich auf, erstickt von der Wärme und den Bettlaken.
»Lady?« erkundigte sich eine unsichere Frauenstimme in den Schatten.
Mara wandte sich um und blickte in Kamlios ovales Gesicht, das alarmiert und besorgt war. »Es geht mir gut, kleine Blume«, murmelte sie. Ohne nachzudenken hatte sie Lujans Spitznamen benutzt.
Dieses Mal zuckte Kamlio bei der Verniedlichung nicht zusammen. Statt dessen schob sie auch ihre Bettdecke zurück und warf sich in erbärmlicher Erniedrigung auf die sandigen Bodenbretter.
Mara fühlte sich nicht geschmeichelt, sondern beunruhigt, obwohl Bedienstete und Sklaven solche Gesten ihr Leben lang gemacht hatten. Es war üblich bei den Tsuranis, die ganze Loyalität auf den Herren oder die Herrin zu richten. Wie auch immer, nach der Erfahrung in dem goldenen Bannkreis hinterließ die Tradition ein Gefühl von Übelkeit. »Steh auf, Kamlio. Bitte.«
Das Mädchen rührte sich nicht, doch ihre Schultern bebten unter der Flut von hellen Haaren. »Lady«, sagte sie unglücklich, »warum habt Ihr mich sogar über Eure Familie gestellt? Wieso? Ich bin sicherlich nicht soviel wert, daß Ihr mich nicht bei diesen Thuril gegen die Sicherheit Eurer Kinder eintauschen könntet.«
Mara seufzte; sie beugte ihren müden Rücken und umfaßte Kamlios Handgelenke. Sie wollte sie hochziehen, doch es gelang ihr nicht, denn sie war noch schwach von dem Wahrheitsbann. »Kamlio, bitte steh auf. Meine Sorge um meine Kinder steht über allem, sicher, aber es steht mir nicht zu, über das Leben eines anderen freien Individuums zu verhandeln, nicht einmal für das Überleben meiner Familie. Du hast mir keine Treue geschworen und bist dem Hause Acoma nicht verpflichtet.«
Jetzt richtete Kamlio sich auf. Sie war in ein Nachtgewand gehüllt, das sie von den Thuril bekommen hatte und das für ihre schlanke Gestalt viel zu groß war. Sie kauerte sich ans Ende des Bettes. Ihre Augen waren so tief wie Höhlen in dem düsteren Licht. Mara erkannte, daß sie in Miranas Nähzimmer sein mußten, denn ein Webstuhl stand in der Ecke, und Haufen von Stoffen waren darum verstreut. Sie versuchte noch immer, ihre Gedanken zu ordnen, die in Mitleidenschaft gezogen worden waren, als der Wahrheitsbann sie alte Geschehnisse neu durchleben ließ. Die ehemalige Kurtisane sprach.
»Arakasi«, sagte Kamlio mit stockender und bedauernswerter Sicherheit. »Ihr habt
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