Tag der Entscheidung
unterdrücken, die sich weigerten, sich ausbilden und kontrollieren zu lassen, oder die ihre Kräfte zum Bösen benutzten. Die Götter allein wissen das. Doch wenn es vielleicht gute und überzeugende Gründe für eine solche Handlungsweise in der Vergangenheit gab, so ist sie im Laufe der Zeit entartet. Daß Tausende von Töchtern ermordet wurden, um ihre Talente zu unterdrücken, ist nach thurilischem Gesetz unentschuldbar.«
Mara kam ein unangenehmer Gedanke. »Werde ich vor Gericht gestellt für die Ungerechtigkeiten in ganz Tsuranuanni?«
Die Kaliane nickte und sah sie mit einem Blick an, der selbst voller Furcht war. »Zum Teil, Lady Mara. Wenn Ihr unsere Hilfe gegen die Versammlung wünscht, müßt Ihr uns überzeugen. Wenn wir handeln, wird es nicht für das Überleben der Acoma sein, auch nicht für Eure persönlichen Ziele, nicht einmal, um das Kaiserreich zu einer gerechteren Nation zu machen. Für uns ist die Ehre Eurer Ahnen, selbst das Leben Eurer Kinder, so bedeutungslos wie der Staub im Wind.«
Mara wäre beinahe abrupt stehengeblieben; was war unschuldiger als das Leben ihrer kleinen Töchter und ihres Sohnes? Doch der Griff der alten Frau zerrte sie unerbittlich auf den gewölbten Bogen eines beeindruckenden mehrstöckigen Gebäudes zu. »Was bewegt dann Eure Leute, wenn nicht das Leben der Kinder?« Trotz aller Bemühungen konnte Mara ihre Bestürzung nicht verbergen.
Die Antwort der Kaliane blieb so unpersönlich wie das Plätschern der Wellen am Strand. »Wenn wir trauern, dann um den Verlust von Magiern und Magierinnen, die sterben mußten, ohne Gelegenheit erhalten zu haben, ihre Fähigkeiten auszuüben. Mit jedem und jeder einzelnen von ihnen ist unschätzbares Wissen verlorengegangen. Und wenn wir verzweifeln, dann wegen der Cho-ja, deren Beherrschung der Magie weit über die unserer eigenen Magier hinausreicht, die in Eurem Land jedoch von diesem wahren Ruhm ihrer Rasse ausgeschlossen sind.«
»Das Verbot!« Voller Aufregung vergaß Mara für einen Augenblick ihre Angst. »War es geheime Macht, was die Cho-ja-Königin meinte, als sie von dem Verbot sprach?«
Die Kaliane verschwand im Schatten, als sie unter den stark gewölbten Bogen trat, und antwortete ausweichend. »Das ist das Geheimnis, Lady Mara, das Ihr enträtseln müßt, wenn Ihr in Eurer Auseinandersetzung gegen die Erhabenen überleben wollt. Doch zuerst müßt Ihr den Ältestenkreis von Thuril von Eurer Ehrenhaftigkeit überzeugen. Wir werden hören und urteilen. Wählt Eure Worte sorgfältig, denn wenn Ihr diesen Ort erst einmal gesehen habt, seid Ihr von noch viel größerer Gefahr bedroht.«
Vor ihnen lag ein Gewirr aus Gängen, die wie Tunnels gewölbt und durch einige Reihen von Cho-ja-Kugeln erleuchtet waren. Die Böden bestanden aus Marmor. Die Kunstfertigkeit der bogenförmigen Säulen raubte Mara den Atem: Nicht einmal die Steinarbeiten im Palast des Kaisers waren bis zu einem solch schimmernden Glanz poliert. Die Leute, die sich in Vorzimmern und an den Türschwellen versammelten, trugen Kostüme mit Perlen und Kopfbedeckungen aus Federn, einige auch die schlichten Kilts von Bediensteten. Andere in weißen Roben wurden von der Kaliane als die Akolythen der Zunft bezeichnet. Alle ohne Ausnahme verbeugten sich vor ihr, als sie vorbeischritt, und Mara spürte ihre Blicke wie heiße Kohle auf ihrem Rücken. Es war Magie dabei, ein Gefühl von Macht in der Luft, das selbst Echos erdrückend erscheinen ließ. Fieberhaft wünschte Mara sich zurück nach Hause, umgeben von vertrauten Wänden und Gewohnheiten, die sie verstand.
Die Kaliane brachte sie in eine größere Halle, die in ein widerhallendes Vorzimmer führte. Tausende von Kerzen erleuchteten auf unterschiedlichen Stufen den Raum und blendeten mit ihrem grellen Licht Maras Augen. Vor ihr lag ein sogar noch gewaltigerer Raum, dessen am Rand auf Säulen stehende Galerien mit komplizierten Schnitzereien und Lochmustern verziert waren. Dutzende von bemäntelten Gestalten bevölkerten die bis sechs Stockwerke hohen Absätze. Leitern und eine Reihe von schmalen Wendeltreppen boten Zugang zu den obersten Rängen.
»Dies ist unser Archiv«, erklärte die Kaliane. »Hier beherbergen wir all unser Wissen und Kopien von allen Schriften, die mit unserer Zunft zu tun haben. Die Halle dient auch als Versammlungsraum, wenn die Magier von Thuril zusammentreten. Dies ist die engste Form einer Art Organisation. Wir haben keine Bruderschaft, wie Eure Versammlung sie ist, und wir
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