Tag der Entscheidung
rubinroten Tiefen im Blick des Magiers zeigten keine Gnade. Ein Streit war vergeblich, erkannte sie. Das Geschrei, das ihr eine Audienz beim Thuril-Rat verschafft hatte, würde hier gar nichts erreichen. Sie war beschämt bei dem Gefühl, daß diese Zivilisation ihre Errungenschaften im Kaiserreich als etwas einschätzte, das weniger war als die Ordnung, die ein menschliches Kleinkind im Sandkasten schuf. Sie unterdrückte den Wunsch, wütend über ihr Schicksal loszubrüllen. In den Augen dieser Geschöpfe war sie ein Kind: ein gefährliches, mordendes Kind, aber immer noch ein Kind. Also gut, sie würde sich der Neugier hingeben, die sie quälte. Vielleicht konnte sie daraus neue Einsichten und Ideen erlangen. Gedrängt von glühendem Zorn, schob Mara die Sorge um ihre Familie und ihr Land beiseite. Sie gab den Instinkten eines Kindes nach.
»Ich besitze keine großen Weisheiten«, verkündete sie mit kühner Stimme. »Statt Wissen zu geben, würde ich gerne Wissen erhalten: In dem Land meiner Geburt gibt es einen Vertrag, der die Cho-ja als Gefangene hält. In meinem Land ist es verboten, davon zu sprechen oder Wissen über den Krieg weiterzugeben, der zu seiner Entstehung führte. Wenn die Erinnerung an diese große Schlacht und die Friedensbedingungen in Chakaha bekannt sind, bitte ich um Mitteilung über diese Ereignisse. Ich möchte die Wahrheit über die Vergangenheit kennen, die mich verurteilte.«
Ein summendes Murmeln lief durch das Tribunal, ein Zischen, das zu einer Kakophonie wurde, die Maras Nerven strapazierte. Die Cho-ja-Wächter hockten hinter ihr, reglos, als wollten sie diese Position bis ans Ende der Zeit beibehalten. Der Schreiber, der bei dem Magier stand, zuckte einmal zusammen, dann verlagerte er das Gewicht, als wäre er unsicher. Der Magier selbst rührte sich nicht, bis er plötzlich seine Flügel erhob. Die seidendünnen Falten entfächerten sich mit einem leichten Zischen der Luft und schnappten dann mit einem Krachen auseinander, das die Halle schlagartig zum Schweigen brachte. Mara starrte wie eine Bäuerin, der Wunder präsentiert werden; sie bemerkte, daß die Flügel irgendwo an den Vorder-und Hintergliedmaßen befestigt waren – beinahe wie ein Spinnennetz, aber so fest wie Segel. Die Vorderglieder bestanden aus mehreren mit Gelenken versehenen Gliedmaßen und erhoben sich weit über den Kopf, bis sie beinahe das Dach des Gewölbes berührten.
Der Magier drehte sich auf den stelzenähnlichen Beinen um. Sein jetzt hitziger Blick fiel über das schweigende Tribunal und zum Schluß auf Mara. »Ihr seid ein seltsames Wesen«, sagte er.
Mara verbeugte sich, obwohl ihre Knie nachzugeben drohten. »Ja, Erhabener.«
Der Cho-ja-Magier atmete zischend die Luft aus. »Redet mich nicht mit dem Titel an, mit dem Eure Rasse die Verräter belohnt, die Mitglieder Eurer Versammlung.«
»Lord also«, entgegnete Mara. »Ich biete Euch meine bescheidene Achtung, denn auch ich muß die Unterdrückung durch die Versammlung erleiden.«
Gezwitscher erhob sich von den Versammelten, dann wurde es wieder still. Der Blick des Magiers schien durch Maras Haut hindurchzubrennen und das Innere ihrer Gedanken zu berühren. Das Gefühl von einem störenden Eingriff durchströmte sie wie eine Art Fieber oder der Schmerz beim Kontakt mit Feuer, und sie schreckte zurück und unterdrückte einen Schrei. Dann verschwand das Gefühl wieder und hinterließ nur Benommenheit. Sie bemühte sich, das Gleichgewicht zu behalten und aufrecht stehenzubleiben.
Als sich ihre Sinne wieder geklärt hatten, sprach der Magier hastig zum Tribunal. »Sie spricht die Wahrheit.« Sein Ton hatte jetzt beinahe etwas Singendes, was möglicherweise von der Überraschung herrührte. »Diese Tsurani weiß nichts von den Taten ihrer Ahnen! Wie ist das möglich?«
Mara betrachtete ihre angeschlagene Würde und antwortete für sich selbst. »Weil meine Art kein Schwarmbewußtsein besitzt, keine kollektive Erinnerung. Wir wissen nur, was wir im Laufe unseres Lebens selbst erfahren haben oder was uns von anderen beigebracht wurde. Bibliotheken bewahren unsere vergangene Geschichte, und das sind lediglich Berichte, den Verwüstungen der Zeit und den Begrenzungen ausgesetzt durch jene, die ihre Inhalte niedergeschrieben haben. Unsere Erinnerungen sind unvollständig. Wir haben kein …« Sie intonierte das Klick-Klack, das die Königin auf ihrem Land benutzt hatte, wenn sie von dem Bewußtsein des Schwarms gesprochen hatte.
»Still,
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