Tag der Entscheidung
ihn nicht schon auf der Coalteca in Stücke gerissen hätte, bevor wir überhaupt das Ufer erreichten. Nein, ich glaube nicht, daß ich dieses Mal lieber Saric oder Arakasi bei mir hätte. Die Götter verfolgen ihren eigenen Willen. Ich vertraue darauf, daß das Schicksal Euch aus einem bestimmten Grund hierherführte.«
Der letzte Satz war eine vorgetäuschte Überzeugung. In Wahrheit fühlte Mara nichts als eine Vorahnung. Dennoch erzwang ihre Bemühung die Andeutung eines Lächelns von ihrem Offizier. Er hatte aufgehört, mit den Fingern gegen seine leere Scheide zu klopfen. »Lady«, gestand er ironisch, »beten wir, daß Ihr recht habt.«
Lange Stunden vergingen, ohne daß Tageslicht ihnen hätte mitteilen können, ob der Tag bereits in die Nacht übergegangen war, und auch keine Störung, kein Geräusch unterbrach die Eintönigkeit. Lujan schritt in der winzigen Kammer auf und ab, während Mara sich hinsetzte und erfolglos zu meditieren versuchte. Friedliche Gedanken entschlüpften ihr, immer wieder unterbrochen von der Sehnsucht nach ihren Kindern und ihrem Mann. Sie ärgerte sich, war besorgt, daß sie niemals mehr die Möglichkeit haben würde, Frieden mit Hokanu zu schließen. Irrationale Befürchtungen zerrten an ihr: daß, wenn sie nicht nach Hause zurückkehren würde, er wieder heiraten und Söhne zeugen und die kleine Kasuma niemals ihr rechtmäßiges Erbe antreten würde. Daß Justin vor Erreichen des Mannesalters getötet werden und das Geschlecht der Acoma zerbrechen würde. Daß Jiro mit dem Rückhalt der Versammlung Ichindars neue Ordnung zerstören und der goldene Thron des Kaisers wieder zu einem Sitz für einen Sklaven religiöser Zeremonien werden würde. Das Amt des Kriegsherrn würde wieder eingeführt und das Spiel des Rates wieder aufgenommen werden, mit all seinen mörderischen Fehden und dem Blutvergießen. Und schließlich würden die Cho-ja des Kaiserreichs für immer an die Unterdrückung durch einen ungerechten Vertrag gebunden sein.
Mara riß die Augen auf. Ein Gedanke kam ihr, und ihr Puls beschleunigte sich. Diese Cho-ja mochten möglicherweise nicht von einer Tsurani, einer verschworenen Feindin, berührt werden – aber würden sie auch ihren Kameraden in der Gefangenschaft im Kaiserreich den Rücken kehren? Sie mußte ihnen verständlich machen, daß sie, als die einzige Gegnerin der Versammlung mit Rang und Einfluß, den Cho-ja in Tsuranuanni zum ersten Mal Hoffnung auf eine Veränderung bot.
»Wir müssen einen Weg finden, gehört zu werden!« stieß Mara hervor und begann neben Lujan herzumarschieren.
Weitere Stunden vergingen. Hunger begann sie zu quälen, zusammen mit der Dringlichkeit von körperlichen Bedürfnissen, die sie lange unterdrückt hatten.
Endlich konnte sich Lujan einer ironischen Bemerkung nicht mehr enthalten. »Sie hätten unsere Zelle wenigstens mit einer Latrine ausstatten können. Wenn sie mir keine andere Wahl lassen, werde ich meine Herkunft beschämen und meine Blase auf dem Boden entleeren müssen.«
Doch bevor es soweit kommen konnte, blendete ein Blitz aus grellweißem Licht die Augen der Lady und ihres Offiziers. Mara blinzelte gegen die zeitweilige Blindheit und erkannte, daß die Wände, die sie festgehalten hatten, sich aufzulösen schienen. Sie hatte keinen Augenblick das Gefühl der Orientierungslosigkeit gehabt und auch kein Geräusch, nicht mal ein Flüstern gehört, und doch fand sie sich, welcher Bann sie auch befreit haben mochte, nicht mehr länger eingesperrt. Sie überlegte, ob ihr Gefängnis möglicherweise eine ausgefeilte Illusion gewesen war. Tageslicht fiel durch eine hohe, durchsichtige Kuppel in leichtem Purpur. Sie und Lujan standen in der Mitte eines gemusterten Bodens, der aus Glas und kostbaren Steinen bestand und mit atemberaubender Meisterschaft gelegt worden war. Die Mosaiken, die Mara in den Hallen von Tsuranuannis Kaiser gesehen hatte, waren dagegen so unbeholfen wie das Gekritzel eines Kindes. Sie hätte diese Schönheit weiter wortlos anstarren können, wenn nicht eine zweireihige Eskorte aus Cho-ja-Kriegern sie vorwärts getrieben hätte.
Verzweifelt warf sie einen Blick auf Lujan. Er war nicht bei ihr! Sie war von dem Boden so verzückt gewesen, und wenn er fortgeführt worden war, hatte sie nicht gesehen, wohin. Ein weiterer Stoß von ihrer Eskorte ließ sie nach vorn stolpern. Ein Cho-ja mit gelben Zeichen auf dem Rumpf führte die Krieger an. Den Werkzeugen nach zu urteilen, die in der Tasche an seinem
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