Tag der Vergeltung
aufgestellten Regeln war, die die Gesellschaft in der Verbrechensbekämpfung scheitern ließ. Die Prozentzahl der Verurteilungen war immer noch hoch, das war nicht zu leugnen. Als einer, der in diesem System lebte und atmete, nahm er jedoch die Veränderungen wahr, spürte, wie unter ihnen die Erde bebte und ihnen der liberale Wind ins Gesicht blies.
Er beobachtete Nevo in seinen Bewegungen. Er war der Täter, das hatte er im Gefühl. Nach zwanzig Jahren im Polizeidienst hatte er einen guten Riecher. Und das war es auch, was ihm sein Verstand sagte. Eben diese Dinge, die man vor Gericht nicht in den Mund nehmen durfte. Dort drehte sich alles nur um Beweise und Gesetze, um zulässige und unzulässige Beweismittel. Obwohl er die Regeln vom Verstand her exzellent erfasste, hieß das noch lange nicht, dass er sie guthieß. Was einem erfahrenen Polizisten seine Intuition oder sein Verstand sagten, war nicht zu ersetzen. Das Übrige war nur Wortgewäsch, ein Spiel, das Staatsanwälte, Verteidiger und Richter vor Gericht durchzogen.
Nicht nur, dass Ziv Nevo der Beschreibung entsprach, die Adi Regev vom Täter abgegeben hatte, nicht nur, dass sie ihn erkannt und auf ihn gezeigt hatte – es gab noch mehr Anzeichen. Angefangen mit seiner Vorgeschichte: Ein kurzer Blick in die Kriminalakte dieses Mannes zeugte von Gewalt. Seine Exfrau hatte zweimal Anzeige gegen ihn erstattet. Einmal war er sogar für einige Stunden festgenommen und dann wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Eine Kollegin hatte ihn wegen sexueller Belästigung angezeigt. Es waren nur Anzeigen. Verurteilt worden war er nie. Na und? Es offenbarte ja nur die Schwächen des Systems, wenn ein Rückfalltäter wie er immer wieder durchschlüpfte.
Er las, dass Nevo vor zehn Jahren, als er achtzehn gewesen war, mit seinem Wagen eine Bushaltestelle gerammt und sie dabei plattgemacht hatte. Die Polizisten vor Ort hatten zu Protokoll gegeben, dass er völlig betrunken war. Sie hatten ihn laufen lassen, als sich herausstellte, dass einen Monat zuvor seine Eltern bei einem Autounfall umgekommen waren.
Doch es war nicht allein seine Vorgeschichte. Jaron Regev war Ziv Nevo nicht beim Frisör oder auf einem Konzert begegnet. Er hatte ihn in dem Viertel gesehen, in dem seine Tochter wohnte, und zwar mitten in der Nacht, als er einem anderen Mädchen nachstellte, sich zwischen Autos versteckte. Was hatte er dort verloren? Seine Wohngegend war es nicht. Auch nicht die seiner Exfrau. Auch von keinem seiner oder ihrer Verwandten. Er hatte das selbstverständlich überprüft.
Nevo hatte auf Regev wie ein Verfolgter gewirkt. Er hatte versucht, ihn abzuhängen, war in einem Hof verschwunden. Hinzu kam sein Verhalten bei der Verhaftung. Einer, der nichts zu verbergen hat, ergreift nicht die Flucht, weint nicht, wenn er geschnappt wird, zittert nicht wie Espenlaub.
Er ging die Informationen durch, die ihm bisher über Nevo vorlagen. Offenbar machte er eine schwierige Zeit durch: Nach Kündigung und Scheidung würde ihm demnächst wegen nicht geleisteter Unterhaltszahlungen das Sorgerecht für den Sohn entzogen. Außerdem hatte er bei der Festnahme nach Alkohol gerochen, so die Polizisten. Derartige Ereignisse trieben manche zu radikalen Maßnahmen. Und bei einer solchen Vorgeschichte, mit Gewalt und sexueller Belästigung, war es zur Vergewaltigung nicht mehr weit. Auf brutale Weise hatte er sich an einer Welt rächen wollen, die mit ihm gebrochen, ihn zum Schwächling degradiert hatte, und er hatte sich ein Opfer gesucht, das leicht zu bezwingen war.
Es war zwei Uhr nachts. Ihm blieben weniger als zwanzig Stunden. Nicht viel. Er würde nicht von ihm ablassen, bis er mit der Wahrheit herausrückte.
Heute Abend um zwanzig Uhr, wenn der Schabbat endete, würde Nevo zur Verlängerung der U-Haft dem Amtsrichter vorgeführt werden müssen. Diese Verlängerung würde er bekommen. Keine Frage. Das war es nicht, was ihm im Magen lag. Vielmehr würde in Kürze ein Rechtsanwalt eintreffen und Ziv Nevo beraten, wie sich die Wahrheit verdrehen ließe. Und andere Rechtsanwälte würden auftauchen, die bei der Bezirksstaatsanwaltschaft arbeiteten und denen es an Mumm fehlte, dem Fall auf den Grund zu gehen.
Er wollte die Sache klarmachen, bevor er dem Richter darüber Rede und Antwort stehen müsste, wie die Identifizierung abgelaufen war, bevor dieses nebensächliche Detail, dieses kleine Missgeschick, zum Dreh- und Angelpunkt des Spiels um Gerechtigkeit würde. Daher hatte er die
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