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Tag und Nacht und auch im Sommer

Tag und Nacht und auch im Sommer

Titel: Tag und Nacht und auch im Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank McCourt
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etwas mitgehen lassen, was nach einem Erbstück aussieht. Er weiß, wenn er einen Gegenstand zurückläßt, der seinem Besitzer ans Herz gewachsen ist, sammelt er Pluspunkte und hilft dem Bestohlenen, den Verlust der übrigen Sachen zu verschmerzen. Außerdem bringt ihm das Glück. Er bekennt sich zu jedem Verbrechen außer Mord und hat sogar einmal in R’lenes Haus auf Mallorca versucht, sich das Leben zu nehmen. Die zehn Dollar, die ich ihm ab und zu gebe, garantieren mir, daß er nie bei mir einbrechen wird, obwohl er mir anvertraut hat, daß Brüche im ersten Stock inzwischen seine Kräfte übersteigen und er normalerweise einen Helfer anheuern muß, wenn er von einer guten Gelegenheit erfährt. An willigen jungen Männern herrscht an der Lower East Side kein Mangel. Feuerleitern und Regenrohre sind nichts mehr für Herbert Huncke. Es gibt andere Möglichkeiten, in die Festen der Reichen einzudringen, sagt er.
    Zum Beispiel?
    Es ist schier unglaublich, wie viele warme Portiers und Hausmeister es an der Park und der Fifth gibt. Wenn ich die richtigen Deals mache und diesen Körper mit jenem Körper zusammenbringe, winken sie mich durch, so daß ich praktisch in manchen dieser Wohnungen ein Nickerchen halten könnte. In der guten alten Zeit, als ich noch jung war, habe ich mich selbst verhökert
und ja, doch, ich bin sehr gut damit gefahren, danke der Nachfrage. Einmal hat mich so ein hohes Tier von einer Versicherung erwischt, und ich hab mich schon auf ein Jahr Knast gefaßt gemacht, aber er hat nur seiner Frau etwas zugerufen, die brachte Martinis, und am Ende machten wir einen flotten Dreier. Das waren noch Zeiten. Damals waren wir noch nicht schwul, nur vom anderen Ufer.
    Tags darauf liegt auf meinem Pult ein Protestbrief mit der Unterschrift »Eine Mutter«. Sie will anonym bleiben, damit ich es nicht an ihrer Tochter auslasse, die am Abend heimgekommen ist und den Eltern von dieser verachtenswerten Kreatur erzählt habe, Honky, bei der es sich, so wie ihre Tochter es geschildert habe, kaum um eine Gestalt handeln dürfte, die der Jugend Amerikas als Vorbild dienen könne. Ihr, der Mutter, sei zwar bewußt, daß es solche Existenzen an den Rändern der amerikanischen Gesellschaft gebe, aber es müßten sich doch vielleicht andere Persönlichkeiten finden lassen, die man den Jugendlichen als Beispiele für »das Wahre und das Gute« vorführen könne. Menschen wie Elinor Glynn oder John P. Marquand.
    Ich kann auf diese Mitteilung nicht reagieren, kann nicht einmal vor der Klasse darüber sprechen, weil ich damit die Tochter in Verlegenheit bringen könnte. Ich verstehe ja die Bedenken der Mutter, aber wenn hier Kreatives Schreiben mit einem Seitenblick auf Literatur unterrichtet werden soll, wo sind dann die Grenzen für den Lehrer? Wenn ein Junge oder ein Mädchen eine Geschichte über Sex schreibt, darf die dann im Unterricht vorgelesen werden? Nachdem ich über die Jahre Tausende von Teenagern unterrichtet, ihnen zugehört, ihre Arbeiten gelesen habe, weiß ich, daß ihre Eltern sich übertriebene Vorstellungen von der Unschuld ihrer Sprößlinge machen. Die Schüler waren meine Nachhilfelehrer.
    Ohne Huncke zu erwähnen, taste ich mich an das Thema heran. Schaut euch die Biographien von Marlowe, Nash, Swift,
Villon, Baudelaire oder Rimbaud an, von nichtswürdigen Charakteren wie Byron und Shelley ganz zu schweigen, bis hin zu Hemingways lockerem Umgang mit Frauen und Wein und Faulkner, der sich drunten in Oxford, Mississippi, totgesoffen hat. Oder denkt an Anne Sexton, die sich umgebracht hat, genau wie Sylvia Plath, und John Berryman, der von einer Brükke gesprungen ist.
    Ach, was bin ich doch für ein Connaisseur der Nachtschatten. Herrgott noch mal, McCourt, hör auf, die Kinder zu drangsalieren. Halt dich zurück. Laß sie sein, sie kommen schon heim, und wenn sie nicht mit den Schwänzchen wackeln, liegt das daran, daß sie ganz rammdösig sind vom Gefasel ihres Englischlehrers.
     
    Strebsame Schüler heben die Hand und erkundigen sich, wie ich ihre Leistungen für die Zeugnisse bewerten werde. Die üblichen Tests müßten sie ja bei mir nicht machen: keine Multiple Choice, kein Ausfüllen leerer Felder, kein Richtig oder Falsch. Besorgte Eltern stellen Fragen.
    Ich sage den strebsamen Schülern, bewertet euch selbst.
    Was? Wie können wir uns denn selbst bewerten?
    Das tut ihr doch ständig. Wir alle tun es. Ein andauernder Prozeß der Selbstbewertung. Gewissenserforschung, Herrschaften. Stellt

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