Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
Vom Netzwerk:
Stimme ist, die mich anschreit, ich solle aufhören, und mich an die Existenz eines Mannes namens Shane erinnert, höre ich sie nicht. Es ist, als wäre die Welt unvermittelt stehengeblieben, und als gäbe es nur diesen einen Augenblick. Diesen tropisch heißen Augenblick. Sonst nichts.
    »Äh, Entschuldigung … Entschuldigung … ENTSCHULDIGUNG.«

    Wir geben uns gegenseitig frei und sehen auf. Beide keuchen wir wie Hunde auf der Straße, die man mit einem Eimer Wasser getrennt hat. Ein Mann – könnte es Kevin sein? – steht neben unserem Tisch und schaut auf uns herab. Er trägt eine Kappe mit einem Schirm wie ein Entenschnabel, leuchtend gelb. Auf seinem Namensschild steht »Phil«.
    »Ihr zwei solltet wohl besser gehen.« Seine Stimme ist weich und klingt entschuldigend. Die Leute starren uns an, und ich sehe an mir hinunter, um mich zu vergewissern, dass ich meine Kleider noch am Leib trage. Tue ich. Bernard reicht Phil einen Fünfer und legt seine Hand um meinen Nacken. Es fühlt sich an wie Elektrizität, und ich habe Angst, dass ich gleich komme, hier und jetzt, mitten in der Kebabbude. Er schiebt mich zur Tür hinaus, wir fallen in ein Taxi und verbringen den Weg bis zu seiner Wohnung mit dem Vorspiel. Der Rest ist bekannt.

4
    Trotz des Verkehrslärms in Swords vernahm ich das Handyklingeln aus den Tiefen meiner Handtasche – einer fast original Prada, die ich letzten Sommer in New York erstanden hatte. Ich war für Lauras Junggesellinnenabschied dagewesen, wobei die Hochzeit schließlich doch nicht stattfand – eine lange Geschichte.
    Als ich auf dem Bürgersteig kauernd ellbogentief in meiner Tasche steckte, brauste der Bus heran und rülpste heiße, schwarze Abgase in mein Gesicht. Obwohl das Handy noch immer klingelte, griff ich nach meiner Geldbörse, riss dabei ruckartig an meiner Tasche und der Inhalt ergoss sich über den gesamten Bürgersteig und unter den Bus. Eine Auswahl an nutzlosen Euro-Münzen rollte auf dem Pflaster herum, froh über den Tapetenwechsel. Vermutlich waren sie seit der Euro-Umstellung darin gewesen. Wenn es sich vermeiden ließ, benutzte ich kein Kleingeld. Erstens war ich in Mathe ein hoffnungsloser Fall (und mit Mathe meine ich Addieren und Subtrahieren), zweitens hielt ich lieber druckfrische Banknoten in meinen kaufbereiten Pfoten. Oder noch besser ein Exemplar aus meiner umfangreichen Kreditkartensammlung.
    Beinahe hätte ich geweint, als ich meine schönen Sachen zwischen den traurigen Überbleibseln des Freitagabends liegen sah: Pfützen aus farbenfrohem Alcopop-Erbrochenem, klitschige Kondome, die aussahen wie Haufen zerquetschter Maden, leere Chipstüten. Mein Lipliner von
Clinique war neben einen hübschen Hundehaufen gerollt, und nicht einmal die Kühnsten unter den Schaulustigen konnten sich überwinden, ihn aufzuheben. Ich sagte ihm wortlos Lebewohl – er hatte mir in vielen Nächten beigestanden. Meine Streichhölzer hatten ihre Schachtel verlassen und lagen verstreut um mich herum, jedes einzelne benutzt. Die meisten Münzen befanden sich inzwischen unter dem Bus, und ich bemerkte einen Mann mit langen, fettigen Haaren, der auf allen vieren mit dem Kopf unter dem Bus steckte und die Ausbeute zählte.
    Etwa zu diesem Zeitpunkt fiel mir auf, dass einer meiner halterlosen Strümpfe gerissen war und in runzligen Falten um meinen Knöchel lag. Glühend vor mir vertrauter Demütigung zog ich meinen Rock so weit wie irgend möglich hinunter, entfernte den Rest meiner ultra-dünnen Strümpfe von meinem Bein und schob den armseligen Nylonknäuel in meine Tasche. Ich richtete mich zu meiner vollen Größe auf, mit High Heels waren das eins dreiundachtzig, und humpelte mit so viel Würde, wie ich aufbringen konnte – was um ehrlich zu sein nicht viel war -, in den Bus.
    »Das Fahrgeld bitte abgezählt bereithalten, meine Liebe«, nuschelte der Busfahrer, während er sich etwas aus den Zähnen pulte. Sein Kopf lag auf seinen über dem riesigen Lenkrad ausgebreiteten Armen.
    »Verzeihung?«, flötete ich lächelnd und wedelte mit meinen letzten zwanzig Euro. Ich nahm nicht oft genug öffentliche Verkehrsmittel, um zu wissen, dass den Busfahrer anzuflöten und zu lächeln die eigene Situation nicht im Mindesten verbessert. Genauso gut könnte man versuchen, mit einer Wurstkette um den Hals einen tollwütigen Hund zu streicheln.
    »Abgezähltes Fahrgeld, bitte schön«, wiederholte er ungerührt.

    Ich warf einen Blick ins Kleingeldfach meines Geldbeutels und entdeckte

Weitere Kostenlose Bücher