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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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nichts weiter als mattbraune Münzen zwischen den seidigen Falten des Stoffes. Ingesamt vielleicht zwölf Cent. Flüchtig überlegte ich mir, zu diesem ganzen Szenarium der entleerten Handtasche von gerade eben zurückzukehren, tat es aber klugerweise nicht.
    »Ich habe es nicht kleiner«, sagte ich mit sehr kleinlauter Stimme.
    Ich erlebte einen flüchtigen Augenblick des Triumphs, als er gezwungen war, seinen Kopf in meine Richtung zu drehen, um mich zu verstehen. Er streckte die Hand aus – der kleine Finger glänzte noch von dem eben erfolgten Beutezug in den Ritzen zwischen seinen Zähnen. Dann wurde er gesprächig.
    »Ich nehme Ihre 20 Euro, okay? Sie bekommen Ihren Fahrschein, ja? In der Zentrale in der O’Donnell Street erhalten Sie das Wechselgeld zurückerstattet, klar?«
    Seine Stimme war monoton, er leierte die Worte runter wie einen Kinderreim, den er schon oft aufgesagt hatte.
    Dann lächelte er, wobei er lückenhafte, gelbe Zähne entblößte, die von weiteren Erkundungen mit seinem kleinen Finger nur profitieren konnten. Ich streckte ihm meine zwanzig Euro hin und achtete darauf, keinerlei Körperkontakt mit seinem glänzenden Finger einzugehen. Für mein Geld erhielt ich einen Fahrschein so lang wie eine Doppelstunde Chemie und begab mich in das Innere des Busses, wodurch ich der Menschenansammlung hinter mir erlaubte vorwärtszudrängen.
    Ganz hinten im Bus kauerte ich mich auf einem Sitz zusammen und machte mich so klein, wie ich nur konnte, indem ich meinen Kopf hängen ließ und die Knie anzog.
    Der Alkohol in meinen Adern fuhr seinen obligatorischen Tiefpunkt auf. Das Drama um den Zwischenfall mit
Bernard ließ nach, und ich sah mich selbst vor meinem inneren Auge: eine ungepflegte Frau in einem Bus, niedergedrückt von insgesamt 12 Cent Kleingeld und einem Kassenbeleg im Wert von 18,60 Euro (einlösbar nur Montag bis Freitag von 10 bis 16.30 Uhr). Würden Taxis Kreditkarten annehmen, wäre es nie so weit gekommen.
    Shanes Gesicht trieb durch den Morast meines Verstands an die Oberfläche. Ich rutschte im Sitz hin und her. Samstagmorgen in London. Was er jetzt wohl gerade machte? Suchte er bei Harvey Nichols nach Maßanzügen à la »Verkäufer, der kürzlich zum Verkaufsleiter aufgestiegen ist«? Schlürfte er einen cremigen Milchkaffee in einem fantastischen, aber noch unentdeckten Straßencafé? Absolvierte er sein Workout im Fitnessstudio und benetzte dabei sein eng anliegendes, graues T-Shirt mit seinem Designerschweiß?
    Dachte er an mich? Hatte er mit einer anderen geschlafen? Ich stellte mir eine zierliche Blondine vor, scharfer Verstand und weiche Kurven, in ihrer wirklich original Prada-Handtasche steckte ein Exemplar des Kamasutra.
    Und dann war da noch Spanien. Shane war da gewesen. Er wusste Bescheid. Ich drückte mein Gesicht fest an die Fensterscheibe des Busses und schloss meine Augen.
    »Wir brauchen eine Pause«, hatte Shane gesagt. Eine Pause. Allein dieses Wort. Das Wort, das Leute benutzen, wenn sie sich nicht überwinden können zu sagen, was sie wirklich wollen. Aber ich wusste, was ich wollte. Ich wollte, dass alles wieder so wie früher war.
    Natürlich war es für ihn ein großer Karrieresprung.
    »Es ist nur für sechs Monate.« Er umarmte mich, und ich ließ es zu. Er wollte mein Gesicht nicht sehen. Shane mochte keine Unannehmlichkeiten.
    Mittlerweile war er zwei Monate weg, und es fühlte sich an wie zehn.

    Der Bus bremste, ich schlug mit dem Kopf gegen die Fensterscheibe und wimmerte. Mir fiel der Anruf auf meinem Handy ein. Ich beugte mich vor, um ein weiteres Mal in die Tiefen meiner Tasche vorzudringen. Der verpasste Anruf stammte von meiner Mutter. Sie rief mich selten auf meinem Handy an. »Die Nummern sind zu lang, wie soll sich die denn einer merken? Und dann die Gebühren.«
    Sie hatte eine Nachricht hinterlassen. Ich hielt den Atem an und wählte mich in die Mailbox ein. »Wo steckst du?« Ihre Stimme war hoch, sie klang aufgeregt. Der Schmerz in meinem Hinterkopf schwoll an. »Wir sind in der Brautmodenboutique und warten auf dich. Wo bist du? Ruf mich bitte zurück, SOFORT!«
    Das »Sofort« endete in einem Crescendo. Ich konnte sehen, wie ihr Gesicht bei diesem Wort rot anlief. Verfluchte, verdammte Scheiße. Ich hatte es vergessen. Die Anprobe für das Brautjungfernkleid. Meine Schwester Clare heiratete – ich war die Brautjungfer. Die Erste Brautjungfer, um genau zu sein.
    »Mist.« Ich lehnte mich in die harten Polster des Bussitzes zurück und

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