Tag vor einem Jahr
Augen: dunkelblau, ein wenig schräg liegend, wenn sie lächelte.
»Das Kleid ist sagenhaft, Clare«, antwortete ich. Von vorne sah es aus, als wäre ihre schlanke Gestalt vom Hals bis zu den Knöcheln in zarte Goldtöne aus Seide und Spitze gehüllt. Im Rücken war das Kleid bis zum Pospalt ausgeschnitten.
»Mein Gott, in dem Kleid darfst du dich nicht allzu weit nach vorne beugen, Clare, sonst hast du ein Bauarbeiterdekolleté.« Wir beide kugelten uns vor Lachen, obwohl es gar nicht so lustig war. Es gehörte eben dazu, wenn wir zusammen waren.
Meine kleine Schwester war im Begriff, die moderne Version eines Prinzen mit gezücktem Schwert zu heiraten: einen Banker, der gerne seinen prallgefüllten Geldbeutel zückte. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, zum jetzigen Zeitpunkt verlobt zu sein, aber hier stand ich, nachdem ich fast zwei Jahre in meiner ersten ernsthaften und »reifen« Beziehung zugebracht hatte, allein und als Brautjungfer auf der Hochzeit meiner jüngeren Schwester. Ich schluckte heftig und würgte diese Gedanken hinunter.
»Tut mir leid, dass ich zu spät bin.«
»Du kommst genau richtig«, antwortete sie. Clare musste ich niemals etwas erklären.
»Was ist mit Mam? Sie hat am Telefon so verärgert geklungen.« An dieser Stelle senkte ich meine Stimme zu einem Flüstern.
»Ich bin nur überrascht, dass du es überhaupt geschafft
hast, Grace.« Der verärgerte Tonfall in ihrer Stimme war mir inzwischen wohlbekannt. Clare sagte zwar, dass ich überempfindlich sei, aber ich wusste es besser.
Ich drehte mich um, und da stand sie mit Nadeln zwischen den Lippen. Sie sah aus, als würde sie in dem Laden arbeiten. Genau genommen sah sie aus wie die Besitzerin des Ladens.
»Mam. Hi!« In diesem Heiligtum der Hochzeitskleider klang meine Stimme ein wenig zu grell. Ihre Enttäuschung war wie ein Kleid, das meine Mutter zurzeit jedes Mal trug, wenn sie mich sah. Sie nickte müde.
»Also«, sagte ich, »soll ich jetzt mein Kleid anprobieren?«
»Nun, aus genau diesem Grund sind wir seit einer Stunde hier, Grace.« Aus Angst, sie könnte die Alkoholfahne riechen, trat ich mit jedem Schritt, den sie auf mich zukam, einen zurück.
»Wir sind nur etwas über eine halbe Stunde hier.« Clare, immer die Friedensstifterin.
»Mam, entschuldige, dass ich zu spät bin. Es lag an …« Doch sie hatte sich bereits von mir abgewendet.
»Nun komm schon, Grace. Wir wollen nicht noch mehr Zeit verschwenden. Mal sehen, ob wir dich in dieses Kleid hineinbekommen.« Sie steuerte auf die Ankleidekabinen zu, in ihren Händen bauschte sich ein großes Bündel kaffeebrauner Seide. Ich schloss den Mund und folgte ihr. Mir war heiß, und meine Augen schmerzten von dem blendend weißen Licht im Raum.
In der Ankleidekabine hielt mir Mam schwungvoll das Kleid an und schüttelte seufzend den Kopf. Durch die Nadeln hindurch murmelte sie: »Das ist dann wohl Janes Kleid. Es ist dir mit Sicherheit viel zu klein. Ich gehe und hole deins.«
Ich beobachtete meine Mutter dabei, wie sie Janes Kleid sorgfältig auf den Bügel hängte, und sah mich selbst in dreißig Jahren. Sie war unglaublich groß für ihr Alter, weshalb es für mich, sofern ich den Mut dazu aufbrachte, ein Kinderspiel war, ihr Auge in Auge gegenüberzutreten. Ihre Haare waren früher wie meine gewesen, lang und von einem hellen Rot – »Als ich in deinem Alter war, konnte ich auf meinen Haaren sitzen.« -, aber jetzt waren sie stahlgrau und lagen in einem starren Bob wie ein Helm an ihrem Kopf an.
»Grace, dir fehlt ein Strumpf.«
Sie nahm plötzlich Habtachtstellung an und richtete einen scharfen Blick auf meine Beine. Die beiden Verkäuferinnen – oder, laut ihren Namensschildern, »Brautberaterinnen« – starrten mich an, ebenso Clare und schließlich meine Mutter. Das blendende Weiß der Hochzeitskleider, die in gerader Linie Schulter an Schulter entlang der Ladenwände aufgereiht standen und mich verhöhnten, brachte mich zum Blinzeln. Die stickige Hitze im Raum war unerträglich, und plötzlich fiel es mir schwer zu atmen.
Ich öffnete meine Handtasche und durchwühlte sie nach meinem Asthmaspray, das natürlich nicht drin war. Mein Atem ging rasselnd. Ich versuchte verzweifelt, die Kabine zu verlassen, doch der Weg war versperrt. Überall waren Leute. Obwohl ich mich bemühte, ruhig zu bleiben, spürte ich, wie die Angst in mir aufstieg und sich wie eine Hand um meine Kehle legte. An die Wand des Ankleideraums gelehnt, glitt ich zu Boden. Die
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