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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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ruhig.
    »Was damit ist? Du suchst dir einfach eine andere? Schadenssachbearbeiter gibt es in London wie Sand am Meer. Es gibt dort jede Menge Arbeit.«
    »Ich bin keine Schadenssachbearbeiterin. Ich bin eine … eine … Ich wurde befördert, erinnerst du dich?«
    Shane schmunzelte, gab sich nachsichtig. »Was immer du machst, Grace, du kannst es auch in London machen.«
    »Aber ich mag meine Arbeit. Ich bin gut darin.«
    »Ja, aber mich magst du mehr. Du bist gut an meiner Seite. Wie auch immer, du wolltest seit einer Ewigkeit nach London kommen. Und jetzt hast du die Möglichkeit dazu.«
    »Lass uns mal kurz sehen, ob ich das richtig verstanden habe.« Meine Wut hatte ich einigermaßen im Zaum, sodass Shane nicht bemerkte, wie aufgebracht ich eigentlich
war. »Von mir wird also erwartet, dass ich meinen neuen Job, meine Beförderung, aufgebe und mit dir versuchsweise den Sommer über in London lebe. Dann, wenn ich ein braves Mädchen bin, darf ich noch eine Weile länger bleiben. Ist es so?«
    In Shanes Gesicht zuckte es. »Grace, komm schon, ich dachte, das wäre das, was du haben wolltest.«
    »Ich wollte es vor zwei Monaten haben, als du weggingst, erinnerst du dich?«
    »Damals war ich nicht so weit.«
    Die Tatsache, dass sich all seine Pläne allein um ihn drehten, schien Shane noch nicht aufgefallen zu sein. Ich warf meine Zigarette ins Gras und zertrat sie mit dem Absatz meiner Sandale. In der lastenden Hitze des Nachmittags fühlte sich mein Körper ganz furchtbar schwer an.
    »Ich verstehe nicht, warum du darüber nicht längst weg bist«, sagte er. Er konnte es wirklich nicht verstehen. Nicht glauben, meine ich. Er wirkte verloren. Ich spürte, wie sich meine Wut auflöste und damit auch meine Entschlossenheit. Die Sprechanlage des Hotels rettete mich.
    »Die Gäste von Mr und Mrs Richard Ryan möchten sich bitte zum Ballsaal begeben, wo in Kürze das Diner serviert wird.«
    »Shane, ich muss hineingehen. Ich sitze am Haupttisch. Wir sehen uns später. Dann können wir darüber sprechen, ja?«
    »Aber wo sitze ich? Nicht neben dir?«, fragte Shane mit blecherner Stimme.
    »Du sitzt an Tisch drei.« Ich entschied mich, lieber nicht zu erwähnen, dass seine unmittelbare Tischnachbarin meine Großmutter sein würde. Er mochte Mary nicht sonderlich, und sie hatte noch keinen meiner Freunde ausstehen können, am allerwenigsten Shane.

    Ich wartete seine Antwort nicht ab und joggte geradezu zum Speisesaal, was angesichts meiner Schuhe ein kleines Kunststück war.
    Natürlich war der Raum bei meiner Ankunft leer. Mir war klar, dass bei einer Hochzeit niemand der ersten Essensaufforderung Beachtung schenken würde, zumal es hier eine kostenlose Bar gab. Mir war aber auch klar, dass ich von dieser Unterhaltung auf der Bank loskommen musste.
    Das Gute war, dass auf den Tischen volle Flaschen Wein standen, der Weißwein war in eisgefüllten silbernen Kübeln kühl gestellt, der Rotwein stand offen und atmete gehorsam bei Raumtemperatur. Ich hob eine Flasche Rotwein hoch und füllte ihn in ein großes Weinglas, wobei ich den kleinen weißen Strich am Glas, der einem zeigt, wann man mit dem Einschenken aufhören soll, nicht weiter beachtete. Mit dem Einschenken hörte ich erst auf, als der Wein auf das frische weiße Tischtuch überzulaufen drohte. Ich fragte mich, wo Clare Bernard platziert hatte, vermutlich irgendwo zwischen Richards Cousins, und prüfte die Liste am Eingang zum Ballsaal. Da war er, am Tisch Nummer sechs. Caroline sollte am Tisch Nummer zwei sitzen, der inoffiziell als der Singletisch bekannt war. Tisch Nummer sechs befand sich unmittelbar neben der Tür, und ich ging um ihn herum und bewunderte die Tischkärtchen, die Clare angefertigt hatte. Die Namen waren mit wunderschöner Schrift auf Leinenstückchen geschrieben worden, die an silbernen Miniaturwäscheklammern hingen, die wiederum an kleinen Bäumchen baumelten, die Clare schon vor Monaten aus Pappmaschee gebastelt hatte. Die Bäume waren kahl – Blätter hatten sich selbst für Clare als zu kompliziert erwiesen -, aber das glitzernde Silberspray, das sie bedeckte, verlieh ihnen ein märchenhaftes Aussehen. Eines der kleinen Stoffstückchen war aus seiner Klammer gerutscht
und auf den Tisch gefallen. Ich beugte mich hinunter, um es wieder anzubringen: Der Name auf dem Tischkärtchen gehörte aber nicht zu den Namen, die für Tisch sechs draußen auf der Liste standen. Es stand »Caroline O’Brien« darauf, und das schmeckte nach List und

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