Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
Vom Netzwerk:
Vierjährigen.
    »Ella, schau, ein Schiff!«, rief ich so plötzlich, dass wir alle zusammenzuckten, und zeigte hinaus aufs Meer.
    Wir beugten uns vor, um das Schiff zu beobachten. Es schien sich nicht am Horizont zu bewegen, aber verschwand gleichwohl aus dem Sichtfeld. Der Himmel verschluckte es.
    »Wo ist es hin?«, wollte Ella wissen. Ich nahm ihre kleine Hand in meine und führte sie wieder nach drinnen.
    »Es ist nach Amerika gefahren, zweimal durch ein
Loch«, sagte ich. Das hatte Dad immer gesagt, wenn ich ihn fragte, wohin die Sonne verschwand, nachdem sie untergegangen war. Oder wohin der Mond während des Tages gegangen war. Oder wo der Regenbogen nach dem Regen geblieben war. Die Antwort war immer dieselbe. »Nach Amerika gegangen, zweimal durch ein Loch.« Ich wusste, warum ich es jetzt sagte. Ella gab sich mit der Antwort zufrieden und fragte mich nichts mehr zu diesem Thema. Ich drehte meinen Kopf, um meine Mutter anzuschauen, aber sie hatte mir den Rücken zugewandt, während sie auf das Meer hinausstarrte.
    Vor dem Dinner kamen die Ansprachen. Vor dem Dinner, wohlgemerkt: Ist die Welt verrückt geworden? Fünf Ansprachen hatte ich zu überstehen, alle auf leeren Magen, wenn man die beiden Packungen Tayto Chips von vorhin nicht mitzählte. Richards Mutter hielt eine lange Rede, in der sie das Verschwinden ihres Ehemanns nur flüchtig erwähnte (»Es war eine Freude, Richard großzuziehen, obwohl sein Vater uns verließ, als Richard erst zwei Jahre alt war«). Sie sagte dies in ihrer üblichen ruhigen, anmutigen Art, nur das Zusammenkneifen ihrer Lippen verlieh dieser alten Kriegswunde Ausdruck. Meine Mutter, die vorher alle Bitten, etwas zu sagen, abgewiesen hatte, stand plötzlich, nachdem sich Mrs Ryan gesetzt hatte, auf. Vielleicht hatte sie die Tatsache getröstet, dass ihr Ehemann gestorben war, anstatt sie zu verlassen. Vielleicht wollte sie Clare nicht im Stich lassen. Vielleicht hatte sie auf leeren Magen ein Glas Wein getrunken. Wer konnte es wissen? Sie stand auf, schien aber ins Stocken zu geraten, als sich alle Augen auf sie richteten, und wartete einen kurzen Augenblick. Ich hielt den Atem an, feuerte sie in Gedanken an.
    »Ähm …«, begann sie. Wahrscheinlich verfluchte sie sich, weil sie sich nicht beim örtlichen Toastmasters-Club
eingeschrieben hatte. Sie trat doch sonst jedem Verein bei, warum also nicht auch diesem?
    »Äh«, fing sie erneut an, Röte breitete sich auf ihrem Hals und Gesicht aus. Meine Hände waren zu Fäusten geballt, und meine Nägel gruben sich in meine Handflächen, während ich Mam durch meine Willenskraft zwingen wollte, sich zusammenzureißen. Und dann schaffte sie es.
    Sie hieß Richard in unserer Familie willkommen und sprach davon, wie glücklich sie für Clare wäre, die am Beginn ihres neuen Lebens der Liebe stünde. So nannte sie es: ein Leben der Liebe. Dann äußerte sie ihre Hoffnung auf weitere Enkelkinder und erwähnte liebevoll Ella, Thomas und Matthew. Ihre kleinen Leute, wie sie sie bezeichnete.
    »Zwei sind also unter der Haube, bleibt noch eine«, sagte sie mit einem Schmunzeln. Alle lachten und schauten mich an, während ich mich in meinem Kleid, das sich heiß und eng anfühlte, hin und her wand.
    Sie sprach von abwesenden Freunden und Familienmitgliedern, und wir hoben die Gläser und brachten einen Toast auf ihre Schatten aus: Dad, Patrick, sogar Pearce, Richards Vater – auch wenn Mrs Ryan bei der Erwähnung seines Namens ihr Glas senkte.
    Mam sprach langsam, bedächtig, ihre Augen hatte sie auf die gegenüberliegende Wand gerichtet. Sie machte es für Clare, und für Patrick, der eine wunderschöne Rede gehalten hätte, bei der alle gleichzeitig gelacht und geweint hätten. Sie machte es für Dad. Sie machte es, weil sie Mutter war, und dies etwas war, das Mütter machen. Sie machen Sachen, die sie nicht machen möchten. Für ihre Kinder. Aus Liebe. Sie endete so unvermittelt, wie sie begonnen hatte, und setzte sich. Alle klatschten und jubelten und nahmen große Schlucke aus bauchigen Gläsern, nachdem sie vorher mit jeder einzelnen Person am Tisch angestoßen
hatten. Im Saal klang es wie in einem Glockenturm, der sich für die Sonntagsmesse bereitmachte.
    Clare sprach – tränenreich, gefühlvoll – und brachte alle mit der anrührenden Zartheit ihrer Liebe zum Weinen.
    Richard sprach – kurz, feierlich -, während er Clares kleine Hand die ganze Zeit über zärtlich in seiner hielt.
    Als der Trauzeuge aufstand und einen Stapel

Weitere Kostenlose Bücher