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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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Tücke. Flüchtig dachte ich darüber nach, das Kärtchen dorthin zurückzubringen, wo es hingehörte, befestigte es aber doch wieder an dem Bäumchen, das neben Bernards stand, und entfernte mich.
    Den Saal entlang zog sich ein Balkon, und ich schlich mich hinaus, um für eine Weile allein zu sein.
    Nach einem kräftigen Schluck Wein zündete ich mir eine Zigarette an und machte es mir auf dem Boden bequem, der sich unter meinem Po ganz warm anfühlte. Mir wurde ein wenig leicht im Kopf vom Alkohol, der mich durchströmte und die Anspannung in mir löste, und ich saugte den Ausblick, den ich vom Balkon hatte, in mich auf. Zu meiner Rechten war die kleine unbewohnte Insel Ireland’s Eye und einer der vorgelagerten Felsen zu sehen. Außerdem Howth Head. Zu meiner Linken lag Lambay Island mit seinem schmalen Streifen gelben Strandes und dem Violett des Heidekrauts, das sich wie ein Teppich bis zur höchsten Erhebung der Insel hochzog. Zwar versteckte ich mich hier, aber ich empfand es eher als Zuflucht. Nur für einen Augenblick. Nur bis ich mich wieder etwas gesammelt hatte.
    »Wo ist Grace? Ich habe ihr gesagt, dass sie pünktlich zum Essen da sein soll.« Im Inneren des Raumes war die Stimme meiner Mutter zu hören, und ich erstarrte. Sie durfte mich hier draußen auf keinen Fall entdecken – trinkend und rauchend und meine Pflichten als Brautjungfer vernachlässigend.
    »Darf ich auf den Balkon hinausgehen, Nanny?« Es war Ella. Ich drückte meine Zigarette auf dem Boden aus, wobei
die Funken meinem Kleid beunruhigend nahe kamen. Leerte mein Glas – um das Beweismittel zu vernichten -, zog mich hoch und glitt den Balkon entlang, weg von den Stimmen, die mich allmählich einholten. Am Ende des Balkons führte eine Tür zurück in den Ballsaal. Ich fühlte mich wie Ethan Hunt in Mission Impossible, als ich mich eng an die Wand drückte und darauf wartete, dass die Stimmen auf dem Balkon auftauchten.
    »Geht es Ihnen gut, Madam?« Eine kleine Kellnerin, vielleicht eine Japanerin, war plötzlich neben meinem Ellbogen aufgetaucht, und fast hätte ich mich vor Schreck vom Balkon gestürzt.
    »Es geht mir gut«, flüsterte ich, ohne meinen Blick vom anderen Ende des Balkons zu wenden. Verdutzt nickte sie und verschwand ebenso leise, wie sie gekommen war. Vermutlich hatte sie so etwas nicht zum ersten Mal erlebt.
    Als Mam und Ella im Tageslicht auftauchten, schlüpfte ich erleichtert und wie ein Profiagent zurück in den Ballsaal und lief zum Haupttisch, wobei ich sorgfältig eventuelle Spuren von Rotwein aus meinen Mundwinkeln wischte und gleich zwei Kaugummis auf einmal kaute.
    »Ist der Ausblick von hier nicht fantastisch?«, sagte ich leichthin und trat zurück auf den Balkon. Meine Mutter schien verwirrt, mich zu sehen, und nicht sonderlich erfreut, aber daran war ich inzwischen schon so gewöhnt, dass es mir kaum auffiel.
    »Gwathie!« Ella rannte auf mich zu und schlang ihre Arme um meine Knie. Man bedenke, dass sie mich vor einer halben Stunde zum letzten Mal gesehen hatte. Was haben Vierjährige an sich, dass man sich so wertgeschätzt fühlt? So geliebt? So besonders? Ich hob sie hoch und vergrub mein Gesicht in ihrem Haar. Sie duftete nach Sommer, mit einem Hauch von Schokolade.

    Als ich sie wieder absetzte, schaute sie mich an, die Augen wegen des Sonnenlichts zu Schlitzen verengt.
    »Onkel Mal hat gesagt, dass du genauso aussiehst wie Onkel Patrick.« Sie musterte mich neugierig. »Wieso kannst du wie Onkel Patrick aussehen, wenn er im Himmel ist?« Der Tag verdüsterte sich, und der Raum zwischen meiner Mutter und mir verringerte sich. Ella stand geduldig da und schaute mich an, wartete auf eine Antwort. Am Ende war es Mam, die mit sicherer Stimme das Wort ergriff.
    »Sie waren wie Zwillinge, Ella. Grace und Patrick. Alle haben gesagt, dass sie wie Zwillinge wären.« Unfähig, den Kopf zu heben und sie anzusehen, sah ich Ella an. Wir, Mam und ich, sprachen nie über Patrick, nicht von selbst, nicht seit es geschehen war. Manchmal unterhielten sich Clare und Jane über ihn, wenn wir dort waren, aber ansonsten sprachen wir nie über ihn.
    »Aber warum ist er in den Himmel gegangen?« Ella war in ihrem Bemühen, es zu verstehen, hartnäckig. »Wollte er nicht zur Hochzeit kommen?«
    »Er wäre liebend gern hier gewesen, Ella«, sagte Mam langsam. »Aber Gott brauchte ihn im Himmel, also musste er gehen.«
    »Vielleicht war Gott ja allein«, überlegte sich Ella mit der typischen Logik einer

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