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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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Papier in seinen Händen zurechtschob, der so dick wie ein Telefonbuch war, hätte ich beinahe den Verstand verloren. »Oh bitte, lieber Gott, lass das nicht seine Rede sein«, betete ich.
    Aber es war seine Rede. Und nicht nur das, sie stand getippt, in kleiner Schrift, einzeiligem Abstand und beidseitig auf diesen Tausenden von Blättern. Er las vom Manuskript ab, sein Finger fuhr vorsichtig unter jedem Wort entlang. Nach jedem Absatz hielt er inne und starrte exakt 2,5 Sekunden (ich maß die Zeit) in sein – äußerst gefangen genommenes – Publikum, bevor er sich wieder seinen Seiten zuwendete. In diesem Monolog, der mit monotoner Stimme vorgetragen wurde, versteckte sich eine Geschichte, die mich – vorübergehend – davon abhielt, die Namen in meinem Handy in Gruppen abzulegen. Eine Geschichte, die sich vor Jahren während der Ferien im County Clare abgespielt hatte, und ein Fußballspiel der Cousins gegen ihre Onkel und Väter zum Gegenstand hatte. Die Pointe bestand darin, dass einer der Onkel in einen Minenschacht fiel und sich das Bein an vier verschiedenen Stellen brach, aber eingebettet in diese Erzählung war eine Aufzählung der Cousins, die an jenem Tag mitgespielt hatten. Bernards und Edwards Namen gehörten dazu. Nach Edwards Namen fügte er ein »Gott möge seiner Seele gnädig sein« hinzu, ohne es aber näher auszuführen. Mein Blick glitt durch die Menge und fand Bernard, der vollkommen ruhig und aufrecht dasaß. Doch seine Hände verrieten ihn. Sie lagen
auf seinen Knien, waren fest zu Fäusten geballt, seine Fingerknöchel traten weiß unter der Haut hervor.
    Caroline neigte sich zu Bernard und stellte ihm eine Frage. Er nickte und wandte sich wieder dem Haupttisch zu. Für den Rest der Welt sah es so aus, als würde er der Rede folgen.
    Als ich mich abwandte, erhaschte ich einen kurzen Blick auf Shane, der neben Granny Mary saß. Er hatte sich auf seinem Stuhl so weit wie irgend möglich nach hinten geschoben, trotzdem kam sie ihm immer näher und näher, ihre Hand hatte sich um sein Handgelenk gelegt, so dass Davonlaufen nicht zur Wahl stand. Aus irgendeinem Grund lächelte sie ihn an – ich vermute, es lag an einer ordentlichen Portion Brandy. Als sie lächelte, verschwanden ihre Augen in einer Reihe von Runzeln und Falten, und sie enthüllte lange gelbe Zähne, die aussahen wie die Zähne eines Esels. Bevor Shane meinen Blick auffangen und mich stumm um Erlösung anbetteln konnte, schaute ich schnell weg.
    Das Knistern neuer Geldscheine, die die Besitzer wechselten, erfüllte den Raum, als am Ende die Länge jeder Rede verkündet, diskutiert und in herrischem Ton von Caroline bestätigt wurde, die sie auf ihrem BlackBerry gestoppt hatte (insgesamt siebenundvierzig Minuten: sechzehn für Clare, Richard, Mam und Mrs Ryan, einunddreißig für den Trauzeugen. Die längsten einunddreißig Minuten meines Lebens, sogar wenn man die Zeit mitberücksichtigt, die ich beim Anschauen eines Theaterstücks mit dem Titel The Bog of Kite verschwendete, das eigentlich The Bog of Shite heißen müsste, so beschissen war es).
    Das Dinner dauerte eine Ewigkeit, vor allem weil wir wegen der Toasts zwischen den Reden, den langen Pausen zwischen den vielen Gängen und den verschiedenen Weinen, die zu jedem einzelnen Gang serviert wurden und
einen ermutigten, das Glas auszutrinken, um es für den nächsten bereit zu haben, alle ziemlich betrunken waren. Selbst Jane begann ein wenig zu lallen, nannte mich »Grashie« und zwickte mich in die Wange, was ihr überhaupt nicht ähnlich sah.
    Bei einer Hochzeit am Haupttisch zu sitzen ist seltsam. Man kann alles sehen, beinahe so, als würde man aus einer erhöhten Position nach unten blicken. Keiner schaut wirklich hoch zum Haupttisch, oder wenn es einer tut, dann nur, um festzustellen, ob Braut und Bräutigam noch immer da sind, sich noch gegenseitig mit Hummersuppe füttern (sie taten es) und sich nicht nach dem Dinner zu einer ersten ehelichen Nummer weggestohlen hatten (hatten sie nicht). Ich saß zwischen dem Priester, Vater Rafferty (nennen Sie mich bitte Ray), und Mrs Ryan (Mrs Ryan). Während ich vorgab, einer schrecklich langweiligen Unterhaltung über die schwindende Anzahl junger Männer, die sich dem Priestertum widmeten, zuzuhören, beobachtete ich aus dem Augenwinkel heraus Bernards Tisch.
    Caroline zog alle Register. Sie trug kaum etwas außer Make-up, ihre Wimpern bogen sich unter dem Gewicht von mindestens drei Schichten tiefschwarzer

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