Tag vor einem Jahr
erneut. Shane sprach noch immer, jetzt las er mir vor, was hinten auf
der leeren Chipstüte, die ich auf die Theke geworfen hatte, stand. Nachdem ich mit der zweiten Tüte fertig war, trank ich einen großen, geräuschvollen Schluck Bier aus Shanes Glas, das vor mir auf der Theke stand. Dann rülpste ich. Ein richtiger Homer-Simpson-Rülpser. Ein richtiger Cheese & Onion-Rülpser. Es war abscheulich von mir. Shane schreckte zurück, als hätte ich ihn geschlagen. Ich konnte es ihm nicht verdenken, ich wusste, dass ich mich widerwertig aufführte, aber die Freiheit, die Erkenntnis, dass es mich nicht mehr kümmerte, was er dachte, sank auf mich nieder wie Tau in der Morgendämmerung eines neuen Tages. Mir war schwindlig davon.
»Entschuldige«, sagte ich.
»Grace, das war absolut …«, setzte Shane an. Ich hielt meine Hand ausgestreckt vor sein Gesicht, um zu verdeutlichen, dass mich seine Meinung nicht interessierte. Und dann sagte ich:
»Wenn dir nichts Nettes einfällt, was du sagen kannst, dann sag gar nichts.« Meine Lehrerin in der ersten Klasse hatte das ständig gepredigt. Wusste ich doch, dass es mir eines Tages nützlich sein würde.
»Grace …« Er fing schon wieder an. »Du benimmst dich heute wirklich seltsam. Ich bin den ganzen Weg hierhergekommen, um dich zu sehen und habe dich kaum zu Gesicht bekommen, und wenn ich dich dann sehe, stopfst du dich voll und … und bist ekelhaft.«
»Was wolltest du mir vorhin sagen?«, unterbrach ich ihn, während ich sein jetzt halbleeres Glas auf die Theke stellte. Hinter ihm konnte ich Bernard und Caroline in einer Gruppe von Hochzeitsgästen sitzen sehen. Jedes Mal wenn Caroline lachte oder auch nur lächelte, lehnte sie sich an ihn und warf ihm tiefe Blicke zu. Sie war ein Profi, daran bestand kein Zweifel. Kein männliches Wesen konnte ihr
widerstehen. Plötzlich drehte sich Bernard herum, als hätte ich ihm auf die Schulter getippt. Es war zu spät, um meinen Blick abzuwenden, also lächelte ich zurück und winkte ihm kurz mit meiner Hand, wobei ich mir albern vorkam. Auch Caroline drehte sich um, mit gerunzelter Stirn, doch als sie sah, dass nur ich es war, lächelte sie.
»Grace, ich versuche, mit dir zu sprechen.« Zurück zu Shane.
»Entschuldige, Shane, ich habe nur Caroline zugewinkt, die ich den ganzen Tag nicht gesehen habe.«
»Du hast mich den ganzen Tag nicht gesehen.« Er versuchte, sich mit den Fingern durch seine Haare zu fahren, konnte es aber wegen all der Stylingprodukte in seinen Haaren nicht.
»Also dann.« Ich nahm sein Bier. »Lass uns in den Garten gehen« – ich wollte eine rauchen -, »und uns ein schattiges Plätzchen suchen, wo wir uns fern der tobenden Menge unterhalten können.«
Im Garten war es heißer als drinnen an der Bar, und ich spürte, wie sich mein Haar wegen der Luftfeuchtigkeit zu locken begann. Wir fanden eine Bank, die teilweise von den knospenden Zweigen einer Platane beschattet war. Shane war zuerst an der Bank, setzte sich in den schattigen Teil und überließ es mir, in der Sonne zu schmoren. Es war sowieso zu spät, um sich Sorgen über Sommersprossen zu machen. Meine Haut war bereits übersät von ihnen, und auf meinem Körper gab es keinen Milimeter Platz mehr für neue.
Ich zog mein Kleid hoch und löste die Zigarettenschachtel aus dem Strumpf. Die Schachtel war halb meinen Oberschenkel hinuntergerutscht, sodass es ein wenig kompliziert war. Shane war erst neugierig, dann aufgeregt, dann enttäuscht, als ihm bewusst wurde, was ich da vorhatte. Ich zündete eine an und atmete aus, indem ich meinen Kopf
von ihm wegdrehte und mich auf die harte Rückenlehne der Bank zurücksinken ließ.
»Du hast behauptet, du hättest es vor einem Jahr aufgegeben.«
»Es war ein schweres Jahr«, warf ich ein, und Shane wechselte das Thema, was ich von vornherein wusste.
»In Ordnung, willst du jetzt den Plan hören?« Ich richtete mich auf und blickte ihn an. Ich wollte den Plan hören, also nickte ich und wartete.
»In Ordnung. Also, du gibst deine Stelle auf, kommst rüber und verbringst den Sommer mit mir in London. Wenn das funktioniert, kannst du solange bei mir bleiben, bis ich meinen Vertrag löse. Dann können wir nächstes Jahr nach Dublin zurückkommen und sehen, wie es weitergeht.« Shane lehnte sich zurück, verschränkte die Hände hinterm Kopf und wartete. Als ihm bewusst wurde, dass ich nicht den geringsten Ton von mir gab, wandte er sich mir zu.
»Was?«
»Was ist mit meiner Stelle?«, sagte ich
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