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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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knarrte unter Schaukelstühlen, einer schweren Standuhr und einem gewaltigen Holztisch, der seinerseits unter dem Gewicht einer Nähmaschine, zahlreicher Reiseführer, exotischer Pflanzen, möglicherweise echte »Schmuggelware«, und zweier riesiger Flaschen Brandy, die beide bis zur Hälfte geleert waren, ächzte. Das Haus hätte eine gründliche Reinigung mit Staubsauger und Staubtuch vertragen, aber es war gemütlich und warm und schien mich mit Geborgenheit zu umfangen, als ich mich auf einem Stuhl niederließ.

    Alles tat mir weh. Ich schob mein Kleid hoch, um meine Hüfte zu untersuchen, die dumpf pochte. Ein dunkelvioletter Bluterguss bildete sich auf der Haut um meinen Hüftknochen. Er schien unversehrt, was mich überraschte. Am Unterschenkel befand sich dort, wo ich gegen den Stuhl gestoßen war, ein kreisrunder blauer Fleck, und mein Hintern schmerzte von der Bruchlandung auf dem Boden.
    Diese Verletzungen waren allerdings nichts im Vergleich zu der Kränkung, der Beschämung und der Demütigung. Ich schloss meine Augen, aber die Szene spielte sich immer und immer wieder in meinem Kopf ab – mit jedem Mal schlimmer. Die Bilder kehrten zu mir zurück. Clares Gesicht, ihr Mund, der vor Entsetzen weit offen stand … Die kleine Ella, die sich in die Arme ihres Vaters schmiegte und interessiert zusah, wie die Erwachsenen sich prügelten, dass es krachte. Und meine Mutter. O Gott, meine Mutter. Ich stöhnte und grub meine Nägel in die Blutergüsse an meinen Beinen.
    »Du trinkst jetzt erstmal einen Brandy«, teilte Mary mir in unmissverständlichem Ton mit.
    Ich nahm das Glas, das sie mir reichte und schüttete es in einem Zug hinunter. Anschließend hustete und keuchte ich, während sie mir – fest – auf den Rücken klopfte.
    »Granny, was soll ich nur machen?«, fragte ich leise, als ich wieder zu Atem gekommen war.
    »Du bleibst hier bei mir«, sagte sie mit so sanfter und weicher Stimme, dass ich zu weinen anfing. Sie saß neben mir und tätschelte mir die Hand.
    »Ich kann nicht für immer bleiben, Granny. Was ist danach. Was soll ich dann machen?«
    »Das Leben geht weiter, Grace«, seufzte sie erschöpft. »Das tut es immer, ob wir es wollen oder nicht.«

    Danach schwiegen wir beide für eine Weile.
    »Ich vermisse Patrick«, sagte ich leise.
    »Ich auch, Mädchen, ich auch«, antwortete die alte Frau, und wir saßen lange nebeneinander. Gelegentlich streichelte ihre Hand meine, und es wurde ganz still um uns in der Dunkelheit des Raums, in dem wir kein Licht angemacht hatten.

49
    Am nächsten Morgen wachte ich auf, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, wo ich mich befand und wie ich dort hingekommen war. Das Bett war hoch und schmal, und statt einer Steppdecke gab es mehrere Lagen von Laken und Decken. Diese waren so eng um mich geschlungen, dass ich kaum atmen konnte. Aber in diesen wenigen zauberhaften Momenten, bevor die Erinnerung zurückkam und sich die Ereignisse des vergangenen Abends im Zeitlupentempo in meinem Kopf wiederholten, fühlte ich mich warm und geborgen. In diesen ersten Augenblicken fiel mir die schräge Holzdecke auf und das kleine Fenster neben meinem Bett, das auf Marys Gemüsegarten hinausging, wo üppig wilder Rosmarin und Knoblauch wuchsen. Ich erinnerte mich an die Sommer, die ich mit meinen Geschwistern in diesem Haus verbracht hatte, in denen wir schon vor dem Frühstück über die Straße rannten und im Meer badeten. Ich dachte an die Kartoffelkuchen, die Mary in einer schweren Bratpfanne ausbackte, und daran, wie sie auf unserer Zunge zergingen, während das Salz obendrauf knisterte. Ich erinnerte mich an die Abende vor dem Kaminfeuer, an denen uns Marys Ehemann Joe – wir nannten ihn Pop – Geschichten von Fionn MacCumhaill und seinen Gefolgsleuten, den Fianna, und von der feurigen Königin Madhbh und der schönen Sadhbh erzählte. Seine Haut sah aus wie Pergamentpapier, im Schein des Feuers wirkte sie gelblich. Seine Augen waren von einem blassen
Blau, die Glut des offenen Feuers und die gefühlvollen Geschichten, die er für uns erfand, hatten sie wässrig werden lassen. Er war schon seit so langer Zeit tot, dass ich fast vergessen hatte, dass es ihn je gegeben hatte. Mary wirkte wie eine Frau, die dazu bestimmt war, allein zu leben, unabhängig und mutig.
    Dann erinnerte ich mich. Ich zog mir die steifen weißen Laken über den Kopf, rollte mich zu einem kleinen Knäuel zusammen und presste die Augen zu, als ob das helfen könnte. Es half nicht.
    Ein

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