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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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wenig half allerdings der Geruch von ausgelassenem Schinkenspeck und darin gebratenem Brot, der die Treppen hochwehte. Ich schob die Laken bis unter die Nase und atmete den Duft ein, mein Mund wurde wässrig.
    Die Schlafzimmertür schwang auf, und Mary erschien. Angesichts der schrägen Decke musste sie den Kopf einziehen.
    »Mädchen, in zwei Minuten gibt es Frühstück«, sagte sie und war ebenso schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen war. Sie hatte sich bereits angezogen. Mit einem Hemd von Großvater, das über ihre weit geschnittenen Jeans fiel.
    »Mary«, rief ich ihr hinterher. Meine Stimme war ein einziges Wehklagen.
    Die Schritte auf der Treppe hielten inne.
    »Was?«, rief sie mit dröhnender Stimme nach oben.
    Dann Schweigen, während ich herauszufinden versuchte, was ich hatte sagen wollen.
    »Ich kann mich dieser Sache nicht stellen. Wie soll ich all das nur durchstehen?« Ich warf mich in mein Kissen zurück und schlug mir dort, wo sich eigentlich ein Rückenteil hätte befinden sollen, den Kopf an der Zimmerwand an.
    »Kannst du dich dem Frühstück stellen?«, rief sie hoch.

    Mein Magen knurrte. Der Duft des gebratenen Specks strömte durch die offene Schlafzimmertür herein.
    »Äh, vielleicht.« Ich verfluchte meinen gesunden Appetit.
    »Gut, dann komm herunter, und wir werden weitersehen.« Mary ging die Treppe hinunter, ihre Cowboystiefel schlugen dumpf auf den nackten Dielenbrettern auf.
    Wir aßen schweigend. Das Einzige, was zu hören war, waren leise Kaugeräusche und ein gelegentliches Saugen, wenn Mary langsam ein Stück Speckrinde aus ihrem geschlossenen Mund zog. Und Schluckgeräusche, während wir riesige Mengen Tee aus angeschlagenen, klobigen Bechern tranken.
    »Warum nenne ich dich eigentlich Mary?«, fragte ich schließlich, als ich nichts mehr essen und trinken konnte. Sie antwortete nicht sofort.
    »Ich weiß es nicht, Mädchen«, sagte sie schließlich. »Deine Mutter hat mich immer Mary genannt, und ich vermute, dass ihr Kinder es gehört und nachgemacht habt.« Sie begann die Teller und Tassen vom Tisch abzuräumen.
    »Aber warum hat sie dich Mary genannt?«, beharrte ich. »Ich meine, warum hat sie dich nicht Mammy genannt? Oder Mutter? Oder Mam?«
    »Ich weiß es nicht, Mädchen«, sagte sie einmal mehr. »Joe hat mich immer Mary genannt. Ich habe ihm nie erlaubt, mich Mammy zu rufen. Das machten viele Männer damals so. Aber ich hätte nie mit einem ins Bett gehen können, der mich Mammy nennt.« Sie schaute mich mit einem Funkeln in den Augen an, und ich nickte schnell, damit sie das Ganze nicht weiter ausführte.
    »Granny.« Ich wartete darauf, dass sie mich verbesserte. Sie tat es nicht. »Was soll ich machen?«
    »Nichts«, sagte sie einfach und schaute mich an. »Zumindest
nicht heute.« Und damit schien das Thema erledigt zu sein.
    Sie gab mir ein paar Aufgaben im Haushalt, die mich den Tag über beschäftigten. Enkelinnenaufgaben. Ich zog im Garten Karotten aus dem Boden und wusch sie. So etwas dauert viel länger, als man meinen möchte.
    Ich schnitt im Vorgarten dicke Sträuße Flieder vom Baum und verteilte sie auf verschiedene Vasen im Haus.
    Ich verbannte mit einem langstieligen Besen Spinnweben, die dick wie Wolle waren, aus den fünf Räumen des Hauses. »Ich kann sie nicht mehr so gut sehen«, hatte Mary gesagt.
    Ich polierte ein silbernes Teeservice, das hinter dunkel getöntem Glas auf einem durchhängenden Regalbrett in der »guten Stube« stand, bis sich mein Gesicht im Bauch der Teekanne spiegelte. Dann musste ich aufhören.
    Mary saß währenddessen fast die ganze Zeit da und lauschte einem Radio, das sie »Rundfunkapparat« nannte, wobei sie zu jedem Musikstück, das gespielt wurde, mit ihrem Stock den Takt schlug. Trotz allem spürte ich, wie ich mich entspannte. Mary hatte mein Handy aus meiner Handtasche genommen: Es schien, als wären wir von allem weit entfernt – auf einem anderen Planeten -, und gerade das tat mir gut. Ich wusste, dass ich mich nicht für immer verstecken konnte, aber vielleicht wenigstens für einen Tag oder so. Wenigstens bis sich der Wirbel gelegt hatte. Wenigstens bis ich mir im Klaren war, was ich tun sollte.
    An diesem ersten Tag hörte ich, wie Mary mit meiner Mutter telefonierte.
    »Es geht ihr gut, sie braucht nur Zeit. Hier gibt es jede Menge davon.«
    »Nein, es besteht keine Notwendigkeit herzukommen. Ich denke, sie braucht dringend ein bisschen Abstand von
allem, wie die Amerikaner sagen.« Begeistert über

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