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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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bewegte sich etwas. Bernard betrat den Saal. Shanes normalerweise vollkommenen Züge waren angespannt, das Gesicht dunkel vor Wut. Bernard sah, dass er auf ihn zukam, und blieb stehen. Er beobachtete sein Näherkommen resigniert. Shanes Hände ballten sich zu Fäusten. Die Entfernung zwischen ihnen verringerte sich. Bernard bewegte sich nicht, nahm seine Brille ab und wartete.
    »Shane«, rief ich und lief los. Shane blieb nicht stehen, sah nicht einmal zu mir her. Er erreichte Bernard, und seine Faust traf in einer einzigen flüssigen Bewegung direkt auf dessen Gesicht. Das Geräusch war entsetzlich: ein scharfes Krachen. Bernard stand noch aufrecht, taumelte aber und hielt sich mit den Händen das Gesicht. Shane schwang seine Faust ein weiteres Mal, dieses Mal traf er Bernards Auge. Es gab einen schmatzenden Laut, bevor Bernard das Gleichgewicht verlor und nach hinten fiel. Shane bewegte sich auf ihn zu, sein Atem ging schwer.
    »Halt!«, schrie ich. Ich stand mit ausgestreckten Armen vor Shane. Im Saal war es still geworden. Niemand bewegte sich. Die Band hatte mitten im Lied abgebrochen, die Hände des Schlagzeugers hingen in der Luft. Shane schien sich seiner Umgebung ganz und gar nicht bewusst zu sein. Noch nie hatte ich ihn so wütend erlebt.
    »Du Hure«, brüllte er mich an, und ich zuckte vor ihm zurück. »All dein Gejammer von wegen ich würde dich nicht anrufen und nicht herkommen. Dabei hast du die ganze Zeit mit dem Freund deiner besten Freundin rumgevögelt, hinter ihrem und meinem Rücken!«
    Ein kollektives Lufteinziehen war um uns herum zu hören.
Der Schlagzeuger ließ die Arme sinken und beugte sich vor. Ich konnte meine Mutter und Clare am Haupttisch sehen, sie waren starr vor Entsetzen.
    »Shane, können wir uns über all das an einem etwas privateren Ort unterhalten?«, flüsterte ich eindringlich.
    »Nein, verdammt nochmal, das können wir nicht«, spie er mir entgegen. »Ich habe nicht vor, noch einen Atemzug an dich zu verschwenden, du fette Schlampe.« Dann schubste er mich mit beiden Händen gegen die Schultern, und ich taumelte nach hinten, knallte mit der Hüfte an eine Tischkante, bevor ich über einen Stuhl stolperte und auf die Seite fiel. Ein blutiger Zahn lag auf dem Teppich gleich neben mir. Er gehörte Bernard.
    Jetzt wurde es laut im Saal: Die Leute gerieten in Bewegung. Bernard setzte sich mühsam aufrecht hin, sein Gesicht war blutverschmiert, sein Auge schwoll an wie ein Brötchen im Backrohr.
    Mary kam zu mir, kniete sich neben mich und zauste mir das Haar.
    »Steh auf«, sagte sie sanft, half mir auf die Beine, legte den Arm um mich und führte mich aus dem Saal. Ohne ein Wort zu sagen, brachte sie mich ins Foyer und auf den Parkplatz, wo sie einem Taxi winkte und mich vorsichtig auf den Rücksitz bugsierte. Ich ließ es geschehen. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz und bellte dem Fahrer ihre Adresse zu.
    »Aber ich habe die Partytüten noch nicht gemacht.« Beim Gedanken an meine Mutter saß ich plötzlich kerzengerade in meinem Sitz.
    »Mach dir keine Sorgen, Liebes. Jane und ich haben sie gemacht.« Granny Mary nannte mich nie »Liebes«. Die Situation war ernst.

    Ich ließ mich in die weichen Polster zurücksinken und schloss die Augen. Mary sagte kein Wort zu mir. Ehrlich gesagt war sie zu beschäftigt damit, den Fahrer zu tyrannisieren.
    »Fahren Sie hier links in die St. Anne’s Road und dann geradeaus bis zur Strand Road. Das ist der schnellste Weg, und ich weiß ganz genau, wie viel es kostet, also keine krummen Touren. Alles klar?«
    Der arme, unglückliche Fahrer hatte keine Gelegenheit zu antworten, denn Mary fing an »Consider Yourself« aus dem Musical Oliver zu singen. Ohne bei auch nur einem Wort danebenzuliegen, das muss man ihr fairerweise zugestehen. Sie hörte nicht damit auf, bis das Taxi vor ihrem Haus in Baldoyle hielt, wo sie ihre winzig kleine Hand in die Geldbörse tauchte und das genaue Fahrgeld in, wie es schien, Ein-, Zwei- und Fünf-Cent-Münzen abzählte.
    Marys Haus war das Großmütterlichste an ihr. Ein nettes kleines, weiß getünchtes Cottage mit zwei kleinen Schiebefenstern auf jeder Seite der Eingangstür, die die Form eines Hufeisens hatte, und einer üppigen Pracht von Rosen, die die Wand hochrankten. Ein schiefes Tor öffnete sich quietschend auf einen schmalen Weg mit Kopfsteinpflaster, der sich zwischen Lavendel, Geißblatt und Jasmin durchschlängelte. Das Innere des Hauses

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