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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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mir auf, dass die Briefe, die ich geschrieben hatte, weg waren. Selbst der an meine Mutter, in dem nur stand: »Liebe Mam«, und sonst auf der ganzen Seite nichts.
    »Wo sind die Briefe?«, fragte ich leise.
    »Was?« Sie sagte es mit jener sehr lauten Stimme, die sie für Vertreter und Bettler an der Haustür reservierte.

    »Die Briefe«, wiederholte ich, wobei ich versuchte, gelassen zu bleiben. »Wo sind sie?«
    »Welche Briefe?«
    »Die, die auf dem Tisch lagen. Ich habe sie geschrieben und sie in Umschlägen auf den Tisch gelegt. Fünf davon. Wo sind sie?« Meine Stimme wurde nun lauter.
    »Waren auf den Umschlägen Briefmarken?« Sie erinnerte sich plötzlich.
    »Nein. Nur Namen und Adressen.« Jetzt schöpfte ich Hoffnung. Vielleicht hatte sie sie in eine Schublade getan. Gott weiß, dass es in diesem Haus genug Orte gab, um Dinge wegzupacken.
    »Ach, die«, sagte sie. »Ich habe sie aufgegeben. Du schuldest mir 2,05 Euro für die Briefmarken. Darin ist allerdings nicht die Zeit miteingerechnet, die ich gebraucht habe, um zur Post und zurück zu gehen.« Sie war im Begriff, sich abzuwenden, als wäre die Unterhaltung zu Ende.
    »Nein!«, schrie ich entsetzt auf. »Sie waren nicht dafür gedacht, abgeschickt zu werden. Ich hab sie nur geschrieben, weil ich … weil es …«
    »Weil du etwas zu sagen hattest und es gesagt hast?«, beendete sie den Satz mit einem Grinsen im Gesicht.
    »Ja!«, rief ich. »Ich meine, nein. Ich habe nur … nur … Ich war …« Mir ging die Energie aus, und die Luft.
    »Grace.« Marys Stimme klang plötzlich weich. »Das Leben ist verdammt nochmal viel zu kurz, um um den heißen Brei herumzureden. Du musst sagen, was du zu sagen hast, selbst wenn du glaubst, dass es der anderen Person nicht gefallen wird.«
    »Warum sagst du das?«, fragte ich sie. Ich hielt meinen Kopf mit beiden Händen.
    »Erinnerst du dich, dass du mich gefragt hast, was du tun sollst? Am Abend der Hochzeit.«

    »Ja«, raunzte ich. Jetzt war ich verärgert.
    »Nun, das ist es, was du tun solltest. Was du getan hast. Mit den Menschen sprechen. Sag ihnen, wie du dich fühlst. Hättest du das von vornherein gemacht, wäre es nie zu dieser Situation gekommen.«
    O Gott, die alte Schachtel hatte Recht. Und sie wusste es.
    »Aber ich habe Mam nichts geschrieben. Nur ›Liebe Mam‹, das war’s«, erinnerte ich mich.
    »Ich weiß, Grace«, murmelte sie.
    »Woher weißt du das?« Es dämmerte mir. »Du hast die verdammten Briefe gelesen, oder?«
    »Ja. Obwohl ich den an Shane über dem Wasserdampf öffnen musste. Du hattest ihn schon zugeklebt.«
    Als sie meinen Blick sah, rammte sie ihren Gehstock auf den Boden. »Manchmal wird es mir eben langweilig, Karotten zu waschen. Was soll ich sagen?«
    Und dann fing ich an zu lachen, zuerst hysterisch, dann richtig aus dem Bauch heraus. Mary sah mich einen Augenblick lang an, und dann fiel sie ein, ihr dreckiges Lachen brachte das Haus zum Beben.
    »Was wird Mam wohl denken?«, sagte ich schließlich, als ich aufhörte zu lachen. »Ein Brief, in dem nichts steht außer ›liebe Mam‹.«
    »Manchmal sagt man alles, indem man nichts sagt«, bemerkte Granny weise, und wieder ging es mit uns durch, wir lachten und lachten, bis uns sie Bäuche wehtaten und unsere Kehlen heiser waren. Danach wusste ich, dass es an der Zeit war, nach Hause zurückzukehren.

50
    Wie einem Suchtkranken, der das Rehabilitationszentrum verlässt, überreichte mir Granny mit der gehörigen Feierlichkeit mein Mobiltelefon und meinen Geldbeutel. Sie waren für mich wie lang verlorene Freunde, und ich hielt sie vorsichtig in der Hand. Das Handy schaltete ich nicht ein. So weit war ich noch nicht. Ich überprüfte den Geldbeutel. Der Inhalt schien unberührt, trotzdem warf ich Mary einen misstrauischen Blick zu, während ich ihn durchwühlte.
    Und dann versetzte es mir einen Schlag. »Was zum Teufel soll ich anziehen?« Die letzten Tage hatte ich irgendwelche Kleider aus Marys uraltem Kleiderschrank getragen. Ich war nirgendwo hingegangen, hatte niemanden getroffen (den ich kannte), weswegen es egal gewesen war.
    »Was stimmt nicht mit dem, was du anhast?« Mary musterte mich von oben bis unten und zuckte die Achseln.
    Ich trug ein Paar schwarze Lederhosen, die oben mit einer Sicherheitsnadel geschlossen wurden (der Reißverschluss war kaputt, und das wahrscheinlich schon seit zwanzig Jahren). Einen schwarzen Rollkragenpulli, vorn ein unseliges Mosaikmotiv, das das Cover eines Led-Zeppelin-Albums

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