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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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darstellte. Eine leuchtend orangefarbene Cowboyjacke mit langen, schmalen Fransen, die bei jeder Bewegung wie Drachenschwänze flatterten. Mit meinen goldenen Highheel-Sandalen, die ich bei der Hochzeit getragen hatte, sah ich aus wie die übelste Sorte Modeopfer, stylingmäßig stehengeblieben im Jahre 1972 oder so.

    Daran war nichts zu ändern. Ich konnte Mary nicht losschicken, um neue Kleider für mich zu kaufen – der Himmel weiß, mit was sie zurückgekommen wäre.
    Mary drückte sich an der Eingangstür herum.
    »Ich nehme an, dass ich dich jetzt bis Weihnachten nicht mehr zu Gesicht bekomme«, sagte sie mürrisch.
    »Wir sehen uns bei Patricks Gedenkmesse«, sagte ich leise. »Sie ist morgen, erinnerst du dich?«
    »Natürlich erinnere ich mich«, schnaubte sie. »Das mit Weihnachten war ein Scherz.«
    Ich beugte mich zu ihr und schloss sie in meine Arme. Sie drückte mich fest an sich und gab mir einen feuchten Kuss, geradewegs unter mein Ohr. Ich küsste sie auf die Wange und schloss fest meine Augen. Ich wollte sie nicht gehen lassen.
    »Fang jetzt bloß nicht an, mir zu sagen, dass du mich liebst oder so ein albernes Zeug«, warnte sie mich mit erhobenem Stock.
    »Bis Weihnachten, Granny.« Ich trat von der Tür weg und lächelte ihr zu. Sie zauste mir das Haar, und als sie lächelte, legte sich ihr ganzes Gesicht in Falten. Schließlich ging sie ins Haus zurück und schloss die Tür.
     
    Die Außenwelt fühlte sich sonderbar an. Heller als in meiner Erinnerung. Lauter. Dreckiger. Irgendwie lebendiger. Marys Haus war für die letzten Tage wie ein Zufluchtsort gewesen, abgesehen von den täglichen Beutezügen zu dem Laden an der Ecke war ich überhaupt nicht draußen in der wirklichen Welt gewesen. Es tat gut, wieder zurück zu sein. In diesem speziellen Moment wusste niemand, wo ich war oder was ich machte. Es fühlte sich an wie Freiheit. Die Tatsache, dass ich gerade bei McDonald’s in der O’Connell Street saß und frühstückte, interessierte niemanden. Ich beschloss, loszuziehen und beim irischen Blutspendedienst
in der d’Olier Street einen halben Liter Blut abzugeben, danach bei Easons in den Bücherregalen zu stöbern und ein Stündchen bummeln zu gehen. Es regnete, weshalb ich mir einen dieser lächerlich fröhlichen Schirme kaufte: einen rosafarbenen mit kleinen dunkelroten Elefanten, die sich an den Schnüren weißer Luftballons festklammerten. Er war hinreißend. Natürlich war, als der Regen aufhörte, bereits eine der Speichen eingeknickt.
    Ich fürchtete mich davor, nach Hause zu gehen. Caroline zu begegnen. Hatte sie den Brief erhalten?
    Stundenlang drückte ich mich in einem Café herum, vielleicht war es das, in dem Caroline bei ihrem schrecklichen Blind Date gesessen hatte. An der Wand hing ein Apparat, der Fliegen töten sollte, und ergoss sein strahlend blaues Licht über den Tisch. Ich trank Tasse um Tasse schwarzen Kaffee und las in dem Buch, das ich gekauft hatte. Es war eines meiner Lieblingsgedichte, »Graben« von Seamus Heaney. Gerade beendete ich die zweite Strophe:
    Ein sauberes Scharren klingt zu mir herein.
    Ein Spaten dringt in kiesigen Boden ein:
    Mein Vater, beim Graben …
    Der Gedanke tauchte so plötzlich auf wie ein Regenwurm aus der lockeren Erde. Sobald er da war, konnte ich ihn nicht mehr loswerden. Selbst als ich das Café verließ und mich auf den Weg zum Kanal machte, wo ich stundenlang spazieren ging – zuerst auf der einen Seite hoch, dann auf der anderen herunter -, war er noch immer da.
    Schließlich winkte ich mir ein Taxi heran, ohne überrascht zu sein, als das allererste auf mein Winken hin sofort anhielt. Der Taxifahrer beugte sich herüber und öffnete mir die Beifahrertür. Er lächelte, als hätte er mich erwartet.

51
    Als ich dort ankam, war es dunkel. Das Auto hielt vor den Türen, und der Fahrer stellte den Motor ab, als wollte auch er aussteigen. Ich bezahlte ihn und gab ein größeres Trinkgeld als üblich obendrauf. Er war freundlich gewesen und hatte keine Fragen gestellt, nachdem ich ihm gesagt hatte, wohin ich wollte.
    »Danke«, sagte ich.
    »Viel Glück«, war alles, was er erwiderte.
    Die Tore waren geschlossen, aber ich konnte sehen, dass dahinter Leute umhergingen. Es schienen eine ganze Menge Leute da zu sein, dunkle Gestalten, über aus der Erde ragende Grabsteine gebeugt, die im Mondlicht silbern glänzten. Es war ein Abend unter der Woche. Kalt, dunkel und feucht, und trotzdem befanden sich Leute hier. Auf gewisse Weise war

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