Tag vor einem Jahr
Richtung von Ethans dünnem Spitzbärtchen. Er schmunzelte, offensichtlich amüsierte er sich. Dann hörte er auf zu schmunzeln, richtete sich in seinem Stuhl auf, zog mir die Gabel aus der Hand und legte sie sanft vor mich auf den Tisch.
»Eigentlich ist es tragisch, wirklich. Es war sein Bruder.« Plötzlich hielt Ethan inne und sah mir prüfend ins Gesicht. Ich lächelte und nickte ihm zu, worauf er fortfuhr – dieses Mal langsamer.
»Ich glaube, er war sein Zwillingsbruder. Laut Jill hieß er Edward. Letzten März. Er verließ an einem Freitagabend das Haus. Keiner vermisste ihn bis zum nächsten Morgen, sie dachten, er wäre nach dem Pub bei einem Freund hängen geblieben oder etwas in der Art. Bernard hat ihn gefunden. In der Scheune neben dem Haus. Er hatte sich erhängt. War seit Stunden tot.«
»Er hat sich erhängt?« Ich flüsterte die Worte fast und beugte mich über den Tisch, näher an Ethan.
»Ja, erhängt, in der Scheune seines Vaters. Kannst du dir vorstellen, wie das sein muss? Deinen Bruder so vorzufinden?«
Wir schwiegen für eine Weile.
Ich dachte an Bernard, an den vorsichtigen Blick, mit dem er mich ansah, die Bedächtigkeit, mit der er seine Worte wählte und abwägte, bevor er sie auf seine wohlüberlegte, stille Art äußerte. Er hatte etwas derart Sanftes an sich, dass mir bei der Vorstellung schauderte, wie er das sehen musste, was er an jenem Samstagmorgen in der Scheune gesehen hatte. Er hatte das hinter sich gelassen, machte mit seinem Leben weiter.
Ethan und ich saßen einige Augenblicke lang schweigend da. Ich dachte an das Foto in Bernards Schlafzimmer. Die beiden Brüder, ihre Rippen zeichneten sich gegen die leuchtend weiße Haut ihrer schmalen Brustkörbe ab. Edward, größer, einen Fuß forsch auf den Rand des kleinen Schlauchboots gesetzt, ganz der Kapitän mit dem Zahnlückenlächeln. Diese Verschwendung.
»Du hast also letzten Freitag wirklich nicht mit ihm geschlafen?« Ethan war wieder beim Thema und hoffte, mir eine ehrliche Antwort zu entlocken.
»Ethan, dein Interesse an meinem Sexualleben ist absurd und, offen gesagt, ein bisschen beunruhigend.«
»Entschuldige, entschuldige, entschuldige. Es ist nur so, dass ich mich gar nicht daran erinnern kann, wann ich zuletzt einen erfüllenden sinnlichen Augenblick mit jemandem erlebt habe. Das Einzige, was ich allem Anschein nach tun kann, ist ausschließlich indirekt, nämlich mittels der Erfahrungen anderer Leute, zu leben.« Ethan war nun unter Kontrolle gebracht, er fuhr sich nachdenklich mit den Händen durch seine Haare.
»Ethan, du musst deinen knochigen Hintern hochkriegen und dich selbst ein bisschen in Umlauf bringen.«
»Mich selbst ein bisschen in Umlauf bringen?«, fragte er verwirrt und dennoch hoffnungsvoll, als wäre das etwas, was er möglicherweise hinkriegen könnte.
»Schau«, ich dämpfte meine Stimme, »von meinen Freundinnen bekomme ich ständig nur zu hören, dass das Zahlenverhältnis zwischen Frauen und Männern in dieser Stadt nicht stimmt, keine Jungs übrig sind, jeder Mann, den sie treffen, entweder verheiratet, schwul, geschieden mit einem Sack voller Kinder oder nur auf sich und seine Angelegenheiten fixiert ist. Auf dich trifft nichts von alldem zu. Geh zum Teufel nochmal da hinaus, schreib dich in einem Fitnessstudio ein, einem Abendkurs, mach dich auf zu deiner Stammkneipe, häng dort ab, lächle Frauen an und versuche, keine Angst vor ihnen zu haben. Du wirst selbst überrascht sein. Ich bin überzeugt, es wird dir dabei gutgehen.« Ich hob das letzte Stück meiner Pizza vom Teller und führte es an meinen gierig aufgerissenen Mund.
»Du meinst, es wird mir dabei gutgehen?«, fragte Ethan zögerlich.
»Es wird dir dabei fantastisch gehen.« Ich lächelte ihn mit einem großen, fetten Lächeln an.
»Ich weiß nicht.« Ethan dachte ein zweites, drittes und vielleicht viertes Mal darüber nach.
»Sollen wir uns Nachtisch bestellen?«, fragte ich unvermittelt. Essen war eine tolle Ablenkung. Essen war die Schutzzone meiner Wahl, und ich kann das in dieser Hinsicht nur empfehlen. Ich meine, ich habe mich oft genug darin verschanzt, und man schau sich an, was aus mir geworden ist. Ich war doch großartig, oder?
Sofort richteten sich all meine Gedanken auf den Nachtisch. Sagte Ethan Ja, würde ich mir den klebrigen Karamellpudding bestellen. Mit leuchtend gelber Vanillesoße, die dick wie Brei war, einen Klecks Sahne am Rand. Sagte er Nein, würde ich mir auf dem Weg zum
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