Tage der Freuden
ziehen. Für diese Menschen ist sie voller Wohlwollen, sie wagt nicht, ihnen Aufträge zu geben, stellt bloß unaufhörlich Fragen an sie, und das einzige, worüber sie staunt, ist der Umstand, daß die Menschen aus dem Umkreis ihres Geheimnisses so viel hören, ohne daß es jemand entdeckt. Eine große Photographie von Biarritz ist der einzige Schmuck ihres Zimmers. Man sieht da verschiedene Spaziergänger, deren Züge man nicht unterscheiden kann; einem von ihnen leiht sie das Gesicht von Herrn von Laléande. Wenn sie wüßte, welche schlechten Musikstücke er liebte und spielt, dann würden die verachteten Romanzen zweifellos auf ihrem Klavier und bald auch in ihrem Herzen den Platz der Sonaten von Beethoven und den Rang der Dramen von Wagner einnehmen – durch eine sentimentale Erniedrigung ihres Geschmacks und kraft des Zaubers, den der Mann, von dem aller Schmerz und alle Freude kommt, über diese Musik ausstreut.
Sie hat einen Menschen bloß zwei- oder dreimal gesehen und jedesmal nur kurze Zeit, er hat einen so kleinen Platz in den äußeren Begebenheiten ihres Lebens inne, und doch hat sein Bild ihr ganzes Denken und ihr ganzes Herz ausgesaugt bis auf den letzten Rest, und dieses Bild trübt sich nun vor den ermüdeten Augen ihrer Erinnerung. Sie sieht ihn nicht mehr klar, sie kann sich seiner Züge, seiner Silhouette nicht mehr entsinnen, kaum mehr seiner Augen. Und doch ist dieses Bild alles, was sie noch von ihm besitzt, und es ist ihr fürchterlichster Gedanke, sie könnte es verlieren. Wohl quält sie ihre Begierde, aber sie ist ihr ein und alles im jetzigen Augenblick, sie ist ihre letzte Zuflucht, wohin sie sich ganz geborgen hat, und sie ist in diese Begierde verstrickt, wie man es ist in ein Gespräch, ja in das ganze Leben, mag es gut sein oder schlecht. Es ist ein fürchterlicher Gedanke, daß diese Begierde sich verflüchtigen könnte und nichts übrigbliebe als ein unangenehmes Nachgefühl eines traumhaften Leidens, ohne daß sie wüßte, von wem es kommt, wer es verursacht, und das Fürchterlichste wäre, ihn nicht einmal in Gedanken zu sehen, ihn nicht einmal in Gedanken liebkosen zu können. Aber jetzt ist das Bild des Herrn von Laléande zurückgekommen nach dieser plötzlichen Verwirrung des inneren Gesichts, Ihr Kummer kann wieder beginnen, das ist fast eine Freude.
Wie wird Madame de Breyves die Rückkehr nach Paris ertragen? Wenn er erst im Januar zurückkommt, was wird sie von jetzt bis dahin tun? Was wird sie, was wird er nachher tun?
Zwanzigmal wollte ich nach Biarritz reisen und Herrn von Laléande zurückführen. Die Folgen wären vielleicht fürchterlich geworden, aber ich kam nicht so weit, sie zu prüfen, sie gestattete es nicht. Aber es bringt mich zur Verzweiflung, zu sehen, wie ihre kleinen Schläfen bis zum Zerspringen von innen her von den gnadenlosen Hämmern dieser unerklärlichen Liebe geschlagen werden. Diese Liebe durchdringt ihr ganzes Leben mit dem Rhythmus der Angst. Oft stellt sie sich vor, er werde nach Trouville kommen, sich ihr nähern, ihr sagen, er liebe sie. Sie sieht ihn, ihre Augen leuchten. Er spricht zu ihr mit dieser weißen Traumstimme, die uns verhindert, an sie zu glauben, und zugleich zwingt, ihr zuzuhören. Es ist ER. Er sagt ihr diese Worte, die uns in Ekstase bringen, obgleich wir sie nur im Traume hören, wenn wir in ihnen mit der äußersten Zärtlichkeit das göttliche Lächeln gespiegelt sehen, unter dem die Geschicke zweier glaubender Menschen sich vereinigen. Aber sofort erweckt sie der klare Gedanke, daß die Wirklichkeit und ihre Begierde parallel laufen und. daß es ihnen ebenso unmöglich ist, sich zu vereinigen, wie einem Körper die Vereinigung mit dem Schatten, den er geworfen hat. So erinnerte sie sich der Minuten in der Garderobe, da sein Ellbogen ihren Ellbogen streifte, da er ihr diesen Körper anbot, den sie jetzt an den ihren hätte pressen können, wenn sie gewollt hätte, wenn sie gewußt hätte, was sie jetzt weiß – und der sich jetzt vielleicht auf ewig von ihr getrennt hat, und sie fühlt, wie die Schreie der Verzweiflung und der Revolte mitten durch sie hindurchgehen wie die, die man auf sinkenden Schiffen hört. Manchmal kommt es vor, daß sie beim Spaziergang über den Strand oder in den Wäldern eine sanfte Freude des Nachdenkens oder der Träumerei über sich kommen läßt oder wenigstens einen guten Duft, ein Stück Gesang, das die Brise herbeiträgt und verschleiert – wenn solch ein Augenblick sie milde
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