Tage der Freuden
Gefühl des Geheimnisvollen hatte ihre Liebe vertieft und der Wirklichkeit entrückt, ausgebreitet, grenzenlos gemacht – und doch hatte es ihr keine von den tausend Qualen erspart, denn (so sagt Baudelaire, wenn er von den Spätnachmittagen im Herbste spricht) »es gibt Empfindungen, deren Weite ihre brennende Intensität nicht ausschließt, und es gibt auf der ganzen Welt keine schärfere Spitze als die des Grenzenlosen«.
V
Und so verzehrte er sich vom grauenden
Morgen an auf dem Algengestrüpp
des Gestades, denn er bewahrte im
Grunde des Herzens wie einen Pfeil in
der Leber die brennende Wunde der
großen Kypris.
Theokrit: Der Zyklop
Ich habe in Trouville Madame de Breyves wiedergetroffen, die ich einst als glückliche Frau gekannt habe. Nichts kann sie heilen. Wenn sie Herrn von Laléande wegen seiner Schönheit oder wegen seines Geistes liebte, könnte man immer noch, um sie zu zerstreuen, einen geistreicheren oder schöneren Menschen suchen. Wäre es seine Güte oder seine Liebe zu ihr, die sie an ihn kettete, da könnte ein anderer versuchen, sie mit höherer Treue zu lieben. Aber Herr von Laléande ist weder schön noch klug, er hat nie Gelegenheit gehabt, ihr zu beweisen, ob er zärtlich sei oder hart, flatterhaft oder treu. So ist er es denn, den sie liebt, nicht seine Verdienste oder seine bezaubernden Eigenschaften, die man in ebenso hohem Grade auch bei andern finden könnte. Er ist es, den sie liebt – seiner Unvollkommenheit, seiner Mittelmäßigkeit zum Trotz. Ihre Bestimmung ist es, ihn zu lieben trotz allem. Dieses »ER«, war es ihr klar bewußt? Wußte sie, daß nur er einen solchen Zauber von Verzweiflung und von Glückseligkeit auszustrahlen die Kraft hatte, so überwältigend, daß ihr ganzes übriges Leben und die anderen Dinge dieser Welt verschwanden? Das schönste Gesicht, die eigenartigste Klugheit hätten nicht dieses unnachahmliche, geheimnisvolle Etwas besessen, das so einzig ist, daß niemals eine menschliche Erscheinung einen Doppelgänger wiederfindet im grenzenlosen Raum und in der Unermeßlichkeit der Zeit. Wäre nicht Geneviève de Buivres dagewesen, die sie in ihrer Unschuld zu Madame von A. geführt hatte, dann hätte sich dies alles nie begeben. Aber die Tatsachen greifen wie Glieder einer Kette ineinander, und zwischen ihnen bleibt ein Opfer eines Leidens ohne Heilmittel, denn hier versagt die Vernunft. Herr von Laléande, der zur Zeit auf dem Strand von Biarritz zweifellos sein Durchschnittsleben in seiner holden Gedankenlosigkeit spazierenführt, wäre sicherlich sehr erstaunt, wenn er von dieser anderen Existenz wüßte, einer Existenz von so wundersamer Kraft, daß sie sich alles andere untergeordnet, alles übrige vernichtet hat, was außer ihr noch in der Seele der Madame de Breyves gelebt hat, und diese Existenz ist ebenso von Dauer wie sein persönliches Dasein und kennzeichnet sich ebenso nach außen durch Handlungen, sie unterscheidet sich bloß durch ein viel schärferes Bewußtsein, das seltener aussetzt und über größeren Reichtum verfügt. Wie erstaunt wäre er doch, wüßte er, daß ihn Madame de Breyves, wo sie geht und steht, zum Leben aufruft (während er doch in seiner körperlichen Erscheinungsform kaum Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit ist), nun aber erscheint er mitten unter den genialsten Menschen, in den exklusivsten Salons, in Landschaften, die tief in sich selbst befriedet sind, und diese vielgeliebte und vielbewunderte Frau hat keinen Hauch von Zärtlichkeit, von Aufmerksamkeit für etwas anderes übrig als bloß für die Erinnerung an diesen Eindringling. Vor ihm verblaßt alles, als habe diese Erinnerung allein die unwiederbringliche Wirklichkeit eines lebenden Menschen und als seien die anwesenden Personen eitel Schatten, Gedankenbild und Erinnerung.
Ob nun Madame de Breyves mit einem Dichter spazierengeht oder bei einer Erzherzogin frühstückt, ob sie nun allein ist und liest oder ob sie mit ihrem besten Freund sich unterhält, ob sie zu Pferde sitzt oder ob sie schläft: der Name, das Bild von Herrn Laléande schwebt über ihr, köstlich und grausam, unentrinnbar, so wie der Himmel über unseren Häuptern. Sie, die Biarritz verabscheut, ist so weit gekommen, bei allem, was an diese Stadt erinnert, einen schmerzlichen und aufreizenden Zauber zu empfinden. Sie interessiert sich für die Leute, die dort sind, die ihn vielleicht einmal sehen werden, ohne es zu wissen, die vielleicht mit ihm leben werden, ohne daraus Genuß zu
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