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Tage der Freuden

Tage der Freuden

Titel: Tage der Freuden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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einer zarten, gebrechlichen Unschuld. Ich pflücke sie jetzt alle in meiner Erinnerung, diese Stiefmütterchen; seitdem ich sie verstanden habe, ist ihre Traurigkeit noch gewachsen, die holde Süße ihres sammetartigen Wesens ist auf immer verschwunden.
II
    Wie kann diese frische Quelle der Erinnerungen noch einmal meiner unreinen Seele von heute entspringen und dahinrieseln, ohne schmutzig zu werden? Welche Wunderkraft besitzt dieser Morgenduft des Flieders, daß er so viel üble Dünste überwinden kann, ohne sich mit ihnen zu mischen und ohne sich zu verlieren? Ach! Er ist zugleich in mir selbst und doch so weit fort von mir! Dies ist so weit außerhalb des Bereichs meines Ichs, daß meine Seele, die ich mit vierzehn Jahren hatte, noch einmal erwacht. Denn ich weiß wohl, es ist nicht mehr meine Seele, und es hängt nicht mehr von mir ab, daß sie es werde. Und doch, ich habe nie geglaubt, daß ich eines Tages so weit kommen würde, sie zu vermissen. Sie hatte nur ihre Reinheit für sich, es wäre meine Sache gewesen, sie stark zu machen und fähig, in Zukunft nach dem Höchsten zu streben. Oft war ich in Oublis mit meiner Mutter am Ufer des Wassers, das voll war von Spielen der Sonne und von Fischen, während der warmen Stunden des Tages – oder es war morgens oder abends, und ich ging mit ihr in den Feldern spazieren, ich träumte vertrauensvoll von einer Zukunft, die an Schönheit niemals das Maß ihrer mütterlichen Liebe erreichte, nie meiner Sehnsucht, meiner Mutter zu gefallen, Genüge tat. Die seelischen Kräfte, wenn nicht des Willens, so doch der Phantasie und des Gefühls, regten sich in mir. Sie riefen förmlich nach einem Schicksal, an dem sie zur Wirklichkeit werden konnten, sie pochten in immer wiederholtem Schlage an die Wand meines Herzens, als wollten sie es öffnen und sich aus mir mitten in das Leben stürzen. In solchen Augenblicken konnte ich mit aller meiner Kraft laufen und springen, tausendmal meine Mutter umarmen, weit vor- und zurückrennen wie ein junger Hund oder zurückbleiben, um Mohnblumen und Kornblumen zu pflücken, und dann brachte ich sie unter lauten Rufen der Freude zu ihr: Es war weniger die Freude am Spaziergang und an diesen gepflückten Blumen – sondern ich wollte mein inneres Glück ausgießen, ich fühlte, wie es in meiner Seele darauf wartete, emporzuquellen, sich ins Unendliche zu verbreiten – in weitere und zauberhaftere Fernen als der äußerste Horizont der Wälder und des Himmels, den ich in einem einzigen Sprung hätte erreichen mögen. Wenn ich euch, ihr Sträuße von Mohnblumen, Kleeblüten und Kornblumen, so trunken an mein Herz preßte, ganz außer Atem und die Augen in Flammen, wenn ihr mich lachen machtet und weinen, war’s nicht deshalb, weil ich mit euch alle meine Hoffnungen von damals zum Kranze band, die nun, nicht anders als ihr, vertrocknet und verwest sind und die, ohne Blüten getragen zu haben wie ihr, nun in den Staub zurückgekehrt sind?
    Was meine Mutter so trostlos machte, war das Fehlen von Willenskraft bei mir. Ich tat alles unter dem Einfluß des Augenblicks. Solange dieser Augenblick von Quellen des Geistes und des Herzens gespeist wurde, solange war mein Leben, wenn auch nicht ganz gut, so doch nicht ganz schlecht. Vor allem schwebte uns die Verwirklichung aller meiner vielen schönen Pläne vor, als da sind: Arbeit, Ruhe, vernunftgemäßes Leben, denn wir beide, meine Mutter und ich, fühlten, sie klarer und ich verworrener, aber auch ich mit großer Kraft, daß diese Verwirklichung nichts anderes ist als eine Neuschöpfung meines Lebens von mir selbst aus und in mir selbst, ein Zauberbild, auf die Wände der Zukunft geworfen, ein Ergebnis dieser Willenskraft, die alles in ihrem Schoß empfangen hatte, alles darin hatte groß werden lassen. Aber immer verschob ich es auf den nächsten Tag. Ich ließ mir Zeit; oft tat es mir leid, den Augenblick vorübergleiten zu sehen, aber ich hatte doch noch so viel vor mir! Indessen hatte ich doch ein wenig Angst, unklar begriff ich, daß mein gewohnter Verzicht auf die Willensentfaltung immer mehr und mehr auf mir lastete, durch je mehr Jahre er sich hinzog. Traurig fragte ich mich, ob die Dinge sich nicht mit einem Schlage ändern könnten, mir wurde bewußt, ich dürfe nicht auf ein schmerzloses Wunder rechnen, um mein Leiden umzugestalten, meine Willenskraft aus der Erde zu stampfen. Es war nicht genug, Sehnsucht nach der Willensentfaltung in sich zu tragen, es brauchte gerade das, was ich

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