Tage der Freuden
umspielt und sie eine Sekunde lang ihr Unglück vergessen läßt –, dann fühlt sie plötzlich einen gewaltigen Schlag im Herzen, eine schmerzensreiche Wunde – und nun erscheint über den Wogen oder über den Blättern an dem verschwimmenden Horizont des Waldes oder des Meeres das undeutliche Bild ihres unsichtbaren und allgegenwärtigen Überwinders, wie es quer durch die Wolken entflieht, leuchtendenden Auges, nicht anders als an dem Tage, als es sich anbot, wie ER entschwindet, den Köcher noch in der Hand, aus dem er ihr eben den Pfeil zugesandt.
[Juli 1893]
Die Beichte eines jungen Mädchens
»Die Begierden unserer Sinne reißen uns hier und dort hin, aber, ist die Stunde vorbei, was bleibt uns In Händen? Reue des Gewissens und Vergeudung des Geistes. Man geht freudig fort, oft kommt man traurig zurück, und die Vergnügungen des Abends machen den nächsten Morgen düster. So schmeichelt anfangs die Sinnenfreude, aber zum Schluß verletzt sie und tötet sie.«
Nachfolge Christi 1. Buch K. 18
I
Man sucht Vergessen in falscher, lauter Fröhlichkeit, aber durch alle Trunkenheit kommt, jungfräulich wie am ersten Tag, der süße Duft des Flieders geschwebt, süß und traurig zugleich.
Henri de Régnier
Bald ist die Erlösung da. Ich war ungeschickt, ich habe schlecht geschossen, fast hätte ich mich überhaupt nicht getroffen. Sicherlich wäre es besser gewesen, sofort zu sterben, aber schließlich ist man nicht imstande gewesen, die Kugel zu extrahieren, und Komplikationen von seiten des Herzens haben begonnen. Das kann nicht mehr lange dauern, immerhin acht Tage, und während dieser ganzen Zeit werde ich nichts anderes tun können, als mit aller Kraft den furchtbaren Knoten des Schicksals noch einmal zu knüpfen. Wäre ich nicht so schwach, hätte ich genug Willenskraft, um mich zu erheben, abzureisen, dann wollte ich nach Oublis sterben gehen, in den Park, wo ich alle meine Sommer bis zu meinem fünfzehnten Jahr verlebt habe. Kein Ort auf Erden ist mehr erfüllt von meiner Mutter, so sehr haben ihre Gegenwart und noch mehr ihre Abwesenheit jeden Fußbreit Landes durchtränkt. Für den Liebenden ist die Abwesenheit die allersicherste, die allerlebendigste, die wirksamste, die unzerstörbarste aller Gegenwarten und die treueste.
Meine Mutter brachte mich nach Oublis Ende April, reiste nach zwei Tagen, kam dann noch auf zwei Tage Mitte Mai zurück und holte mich in der letzten Juniwoche ab. Diese kurzen Besuche waren das Süßeste und Grausamste zugleich. Während dieser zwei Tage überschüttete sie mich mit Zärtlichkeiten, mit denen sie im allgemeinen sehr sparsam war, denn sie wollte meine krankhafte Empfindsamkeit abhärten und beruhigen. An den beiden Abenden, die sie in Oublis verbrachte, kam sie an mein Bett, um mir gute Nacht zu sagen. Sonst hatte sie diese alte Gewohnheit längst aufgegeben, denn ich fand darin viel zuviel Freude und viel zuviel Leid; statt zu schlafen, rief ich sie unaufhörlich wieder zurück, um ihr noch einmal gute Nacht zu sagen. Zum Schluß wagte ich es gar nicht mehr, und da ich doch mehr denn je die leidenschaftlichste Sehnsucht nach ihr empfand, ersann ich stets neue Vorwände, zum Beispiel, mein heißes Kopfkissen wenden, meine eiskalten Füße in ihren Händen wärmen zu lassen, wie nur sie es konnte. Diese zärtlichen Augenblicke gewannen einen besonderen Zauber dadurch, daß ich fühlte, daß jetzt meine Mutter sich ganz echt gab und daß ihre sonstige kühle Zurückhaltung ihr schwergefallen sein mußte. Der Tag der Abreise war ein Verzweiflungstag, ich klammerte mich bis zum Waggon an ihr Kleid, flehte sie an, mich doch nach Paris mitzunehmen. Ich unterschied sehr gut das Echte unter ihrer Maske und die echte Traurigkeit unter den heiteren und beleidigten Vorwürfen wegen meiner Traurigkeit: »Ach, was hast du nur, lächerlich.« Sie wollte mich lehren, Herr über das zu werden, was sie im Grunde teilte. Noch fühle ich meine Aufregung an einem dieser Abschiedstage (klar und deutlich dieses Gefühl, nicht verändert durch die schmerzvolle Rückkehr zum Heute), es war der Tag; an dem ich die süße Entdeckung ihrer Zärtlichkeit machte, die der meinen glich und doch über der meinen stand. Wie alle Entdeckungen war sie vorher gefühlt und geahnt, aber die Tatsachen schienen ihr so oft zu widersprechen. Meine süßesten Eindrücke stammen aus den Jahren, in denen sie nach Oublis zurückkehrte, wohin man sie wegen meiner Krankheit gerufen hatte. Das
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