Tage der Freuden
die Saiten des Leids und der tiefsten Freude in ihr tönen ließ, während alles andere stumm war. Und mochte sie immer noch denken, daß bei näherem Sichkennenlernen all dies verblassen mußte, so gab sie doch dieser Luftspiegelung die ganze Wirklichkeit ihres Schmerzes und ihrer Wollust. Eine musikalische Folge aus den »Meistersingern«, die sie in der Soirée bei der Prinzessin von A. gehört hatte, besaß die eigene Kraft, ihr Herrn von Laléande mit der höchsten Deutlichkeit hervorzuzaubern (»Dem Vogel, der heut sang, dem war der Schnabel hold gewachsen«). Ohne es zu wollen, hatte sie daraus ein richtiges Leitmotiv für Herrn von Laléande gemacht, und als sie es einmal in Trouville im Konzert hörte, brach sie in Tränen aus. Von Zeit zu Zeit, nicht allzu oft, um sich nicht abzustumpfen, schloß sie sich in ihr Zimmer ein, wohin sie sich das Klavier hatte bringen lassen, sie begann diese Melodie zu spielen, schloß die Augen, um ihn besser zu sehen – das war der einzige Rausch der Freude, dem ein entzaubertes Ende folgen mußte, das Opium, ohne das sie nicht leben konnte. Manchmal hielt sie mitten im Spielen inne, um zuzuhören, wie ihr Leid dahinfloß, so wie man sich niederbeugt, um die zarte, nie verlöschende Klage einer Quelle zu belauschen, und sie sah die grausame Wahl vor sich: hier ihre künftige Schande und infolgedessen die Verzweiflung der Ihren, dort (wenn sie nicht nachgab) ihre ewige Traurigkeit. Sie verfluchte sich, allzu klug in ihrer Liebe Freud’ und Leid gemischt zu haben, so daß sie sich von ihr weder wie von einem unerträglichen Gifte befreien noch auch in ihr Heilung finden konnte. Sie verfluchte vor allem ihre Augen, aber vielleicht noch mehr ihren abscheulichen Hang zur Koketterie und zur Neugier, der sie dazu gebracht hatte, diese Augen wie Blumen als Versuchungen vor diesem jungen Manne zu entfalten – nur dieser Hang hatte sie den Blicken des Herrn von Laléande ausgesetzt, die gleich Pfeilen treffsicher waren und deren unbesiegbarer Süße man viel schwerer widerstehen konnte als den Injektionen von Morphium. Sie verfluchte auch ihre Einbildungskraft, denn diese Einbildungskraft hatte die Liebe so zärtlich genährt, daß sich Françoise manchmal fragte, ob nicht bloß diese Einbildungskraft die Mutter dieser Liebe sei, die ihrerseits die Mutter quälte und sie tyrannisierte. Sie verfluchte auch ihre Feinheit, die sich so erfindungsreich, so gut und so schlecht tausend Romane ausgedacht hatte, um ihn wiederzusehen, und was hatte sie mehr an den Heros gefesselt als die immer wiederkehrende Enttäuschung des ewigen Nein? Und sie verfluchte ihre Güte und die Zärtlichkeit ihres Herzens, die, wenn sie sich einmal hingab, die Wonnen einer sträflichen Liebe mit Scham und mit Gewissensbissen vergiften mußten – und sie verfluchte ihren ungestümen Herrscherwillen, der so tollkühn sich aufbäumte, um Hindernisse zu überspringen, wenn ihre Begierde sie an die Grenze des Unmöglichen geführt hatte, der aber so schwach, so weich, so gebrochen war, nicht allein, wenn es hieß: »Du darfst nicht gehorchen«, sondern auch dann, wenn ein andres Gefühl die Zügel ergreifen wollte. Sie verfluchte endlich auch ihre Denkkraft unter allen ihren göttlichen Verkleidungen, diese höchste Gabe, die sie empfangen hatte und der sie (da man ihren echten Namen nicht weiß) alle Namen gegeben hatte als da sind: die Intuition des Dichters, die Ekstase des Gläubigen, das tiefe Gefühl der Natur und der Musik – denn dieses Denken war es gewesen, das vor ihre Liebe Gipfel gesetzt hatte und unbegrenzte Horizonte, dieser Verstand hatte ihre Liebe in das übernatürliche Licht seines Zaubers getaucht und hatte zum Entgelt, dieser Liebe ein wenig von seinem Eigentum geliehen, ihr Denken hatte Anteil an dieser Liebe genommen und sich solidarisch, mit ihr erklärt; sein allerreinstes und sein tief innerstes Leben hatte es mit dieser Liebe vereinigt. Dieses Denken hatte der Liebe, wie man einen Kirchenschatz einer Madonna weiht, alle die kostbaren Kleinode ihres Empfindens und Fühlens hingegeben. Sie hörte ihr Herz klagen in den Abendgesellschaften und auf dem Meere, dessen Melancholie die Schwester ihres Schmerzes wurde, des Schmerzes darüber, daß sie ihn nicht einmal hatte sehen können; sie verfluchte dieses unbeschreibbare Gefühl des Geheimnisvollen aller Dinge, wohin unser Geist sich stürzt, in ein Strahlengewitter der Schönheit, gleich der Sonne, die im Meere untersinkt. Denn dies
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