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Tage der Freuden

Tage der Freuden

Titel: Tage der Freuden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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nicht ohne Willenskraft konnte: wollen.
III
Krachen läßt der wüste Sturm der sinnlichen Begierden dein armes Fleisch als wie ein altes Fahnentuch.
     
Baudelaire
     
    Während meines sechzehnten Lebensjahres überstand ich eine Krise, die mich kränklich machte. Um mich zu zerstreuen, ließ man mich in der Welt debütieren. Junge Männer nahmen die Gewohnheit an, mich aufzusuchen. Einer von ihnen war verderbt und böse. Sein Benehmen war zugleich kühn und sanft, ich verliebte mich in ihn. Meine Angehörigen hörten davon, überstürzten aber nichts, um mir jedes Leid zu ersparen. Wenn ich ihn nicht sah, dachte ich unaufhörlich an ihn, und schließlich erniedrigte ich mich so weit, ihm so ähnlich zu werden, als es nur möglich war. Er führte mich in schlimme Geheimnisse ein, fast durch Überraschung, dann gewöhnte er mich daran, daß ich in mir schlechte Gedanken wach werden ließ, denen ich keine Willenskraft entgegenzusetzen hatte, und doch wäre sie die einzige Macht gewesen, diese bösen Gedanken in das höllische Dunkel zurückzustoßen, woher sie kamen. Als die Liebe zu Ende war, hatte die Gewohnheit ihren Platz eingenommen, und es fehlte nicht an unmoralischen jungen Leuten, welche die Gelegenheit wahrnahmen, sie auszubeuten. Sie waren die Genossen meiner Fehltritte und wurden auch ihre Verteidiger meinem Gewissen gegenüber. Anfangs empfand ich bittere Reue, ich machte Geständnisse, die aber nicht verstanden wurden. Meine Kameraden brachten mich davon ab, weiter bei meiner Familie darauf zu bestehen. Nach und nach brachten sie mir die Überzeugung bei, alle jungen Mädchen täten das gleiche, und die Eltern machten nur so, als wüßten sie nichts davon. Wenn ich gezwungen war, zu lügen, so war meine Einbildungskraft bald imstande, diese Lügen mit einem Schimmer von Schweigen still zu umgeben, das, einer unentrinnbaren Notwendigkeit gegenüber gewahrt, der allgemeinen Sitte entsprach. In diesem Augenblick lebte ich nicht mehr im wahren Sinne des Wortes, aber noch träumte ich, ich dachte und fühlte.
    Um alle diese bösen Begierden zu zerstreuen und zu verjagen, ging ich viel in Gesellschaft. Ihre Vergnügungen dörrten meine Seele aus, sie brachten mir die Gewohnheit bei, stets in großer Gesellschaft zu leben, und mit der Freude an der Einsamkeit ging mir auch das Geheimnis der Freuden verloren, die ich bis jetzt der Natur und der Kunst verdankt hatte. Nie war ich so oft in Konzerten wie in diesem Jahr, ich war ganz dem Wunsche hingegeben, in einer eleganten Loge bewundert zu werden, und nie hat Musik weniger tief auf mich gewirkt. Ich hörte alles, verstand nichts. Wenn ich sie zufälligerweise doch verstand, so hatte ich trotzdem aufgehört, das bei ihr zu empfinden, was nur die Musik entschleiern kann. Auch meine Spaziergänge waren mit Unfruchtbarkeit geschlagen; früher konnte mich ein Nichts für den ganzen Tag glücklich machen: ein wenig Sonnengold auf dem Rasen, der Duft der Blätter unter den letzten Regentropfen, nun hatte all dies für mich seine Süße und seine Heiterkeit verloren. Wälder, Himmel, Gewässer schienen sich von mir abzuwenden. Blieb ich allein mit ihnen, Angesicht zu Angesicht, dann stellte ich ängstlich Fragen an sie, aber sie flüsterten mir nicht ihre rätselvollen Antworten entgegen, die mich einst entzückt hatten. Die himmlischen Gäste, welche aus den Wassern, aus dem Laubwerk, aus dem Himmelsrund sprechen, würdigen ihres Besuches nur die Herzen, die in sich selbst ruhen und die geläutert sind.
    Ich war auf der Suche nach einem Gegenmittel, ich hatte nicht den Mut, das richtige zu wählen, das so nah und ach so weit von mir war, das in meiner eigenen Brust wohnte – und so gab ich mich von neuem sträflichen Freuden hin und glaubte, so die Flamme wieder anzufachen, welche die große Welt ausgelöscht hatte. Vergebens. Gefesselt von der Lust, zu gefallen, verschob ich von Tag zu Tag die endgültige Entscheidung, die Wahl, den wirklich freien Willensakt, mich für die Einsamkeit zu entschließen. Ich verzichtete nicht auf eins von meinen beiden Lastern zugunsten des anderen. Ich mischte sie miteinander – was sage ich, jedes von diesen Lastern setzte seine Kraft ein, alle Hindernisse des Gedankens und des Gefühls zu durchbrechen, die vielleicht dem anderen Einhalt geboten hätten –, so schien eins das andere zu rufen. Denn ich ging in die Gesellschaft, um mich nach einem Fehltritt zu beruhigen, und ich beging einen neuen, sobald ich ruhig geworden war. Dies

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