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Tage der Freuden

Tage der Freuden

Titel: Tage der Freuden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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ist der furchtbare Augenblick, meine Unschuld hatte ich verloren, noch hatte ich nicht die Gewissensbisse von heute, nie in meinem ganzen Leben bin ich weniger wert gewesen, und nie ward ich mehr von allen vergöttert. Früher hatte man mich für ein prätentiöses, übertriebenes kleines Mädchen gehalten, jetzt, gerade im Gegenteil, waren es die Aschenreste meiner Phantasie, die der Welt behagten und die man köstlich fand. Jetzt, während ich gegen meine Mutter das allerschwerste Vergehen beging, nannte man mich, weil meine Haltung gegen sie zärtlich und achtungsvoll war, ein leuchtendes Beispiel für alle Mädchen. Nach dem Selbstmord meines Denkens bewunderte man meine Klugheit, man geriet außer sich vor meinem Reichtum an Geist; meine Einbildungskraft war verdorrt, mein zartes Fühlen verroht, und gerade jetzt konnte ich den höchsten Ansprüchen des geistigen Lebens in der Gesellschaft genügen, denn diese Ansprüche waren ja nur künstlich gemacht, lügenhaft war der Trunk genauso wie die Quelle, aus der man ihn löschen wollte. Übrigens ahnte niemand das geheime Laster meines Lebens, allen erschien ich als ein ideales junges Mädchen. Wie viele Eltern sagten nun zu meiner Mutter, sie würden keine andere Frau für ihren Sohn gewollt haben, hätten sie nur an mich denken dürfen und stünde ich nicht zu hoch. Auf dem Grunde meines versteinerten Gewissens empfand ich trotzdem ein verzweifeltes Schamgefühl bei diesen Schmeicheleien und bei diesen Lobsprüchen.
    Aber dieses Gefühl kam nicht an die Oberfläche, denn so tief war ich gesunken, daß ich die Unwürdigkeit beging, lachend diese Lobsprüche den Genossen meiner Laster zu erzählen.
IV
»Gewidmet dem, der verloren hat,
was sich nie wiederfindet … nie.«
     
Baudelaire
     
    Im Winter meines zwanzigsten Lebensjahres wurde die Gesundheit meiner Mutter, die nie die stärkste gewesen war, sehr erschüttert. Ich erfuhr, daß ihr Herz erkrankt war, noch ohne besondere Gefahr, aber doch so, daß man ihr alles Störende fernhalten sollte. Einer meiner Onkel sagte mir, meine Mutter wünsche mich verheiratet zu sehen. Eine wichtige, klare Pflicht wurde mir vor Augen gestellt, ich sollte meiner Mutter beweisen, wie sehr ich sie liebte. Ich nahm die erste Werbung an, die sie mir übermittelte und die sie billigte, und setzte so, mangels Willenskraft, die Notwendigkeit an die erste Stelle, damit sie mich zwingen sollte, mein Leben zu ändern. Mein Verlobter war ein junger Mensch, dessen außerordentliche Intelligenz, dessen Sanftheit und Energie gerade einen besonders glücklichen Einfluß auf mich ausübten. Außerdem war er entschlossen, mit uns zu wohnen, ich mußte mich nicht von meiner Mutter trennen, was mir den bittersten Schmerz bereitet hätte.
    Nun fand ich den Mut, alle meine Fehler meinem Beichtvater zu bekennen. Ich fragte ihn, ob ich dasselbe Geständnis auch meinem Verlobten schulde, er war mitleidig genug, mich von diesem Gedanken abzubringen, aber er ließ mich schwören, nie meine Verirrungen zu wiederholen, und gab mir dann die Absolution. Die späten Blüten, welche die Freude in meinem Herzen (ich hatte es längst für ewig verdorrt gehalten) sprießen ließ, trugen bald ihre Früchte. Die Gnade Gottes, das Gnadengeschenk einer Jugend, in der so viele Wunden sich von selbst dank der Lebenskraft dieses Alters schließen, hatten mich geheilt.
    Wenn es schwerer ist, Keuschheit wiederzugewinnen als sie zu verlieren – ein Ausspruch des Heiligen Augustin –, so lernte ich jetzt eine eigene Tugend kennen. Kein Mensch zweifelte daran, daß ich nun viel mehr wert sei als zuvor, und meine Mutter küßte jeden Abend meine Stirn, nie hatte sie aufgehört, daran zu glauben, daß diese Stirn rein war. Mehr noch, man machte mir in diesem Augenblick wegen meines zerstreuten Wesens, wegen meines Schweigens, wegen meiner Schwermut in der Gesellschaft ungerechte Vorwürfe. Aber ich wurde nicht böse, zwischen mir und meinem beruhigten Gewissen war ein Geheimnis, dem ich viel innere Freude verdankte. Einen unendlich zarten Zauber hatte die Genesung meiner Seele, sie lächelte mir jetzt wie das Antlitz meiner Mutter, wie mit zärtlichem Vorwurf durch gestillte Tränen. Ja, meine Seele begann ein neues Leben, nun verstand ich nicht mehr, wie ich diese Seele hatte mißhandeln, quälen, ja fast töten können, und ich dankte Gott aus strömendem Herzen, sie noch im letzten Augenblick gerettet zu haben.
    Diesen selben Gleichklang der tiefen, reinen Freude und

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