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Tage der Freuden

Tage der Freuden

Titel: Tage der Freuden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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jedem Wandel der Dinge den gleichen Ausdruck entgegen, gemischt aus matter Gereiztheit, schmollender Resignation, angehaltener Wut und abgrundtiefer Verblödung. Indessen machte dieser Ausdruck auf dem Gesicht des Finanzmannes heute einer herzlichen Genugtuung Platz, sooft sein Blick dem des Kompagnons begegnete. So schwer erträglich ihm der Mann im täglichen Leben war, so fühlte er jetzt eine flüchtige, aber aufrichtige Sympathie, nicht nur deshalb, weil es ihm so schnell gelungen war, jenen mit seinem Luxus zu blenden, sondern kraft jener leichten Brüderlichkeit, die uns in der Fremde angesichts eines Landsmannes, mag er noch so widerlich sein, ergreift. Er, der Hausherr, wurde so brutal Abend für Abend aus seinen Gewohnheiten gerissen, so unbillig der verdienten Ruhe entzogen, so grausam entwurzelt –hier fand er eine Stätte, für gewöhnlich fluchwürdig, jetzt aber anziehend genug, ihn an sich zu fesseln, und er verlängerte den Aufenthalt, um sich hier zu retten vor grimmiger, verzweifelter Vereinsamung. Ihm gegenüber spiegelte Frau Fremer ihre blonde Schönheit in den bezauberten Blicken ihrer entzückten Tischgenossen. Der doppelt gute Ruf, der sie umgab, war ein trügerisches Prisma, durch das jeder versuchte, ihren wahren Charakter zu erkennen. Ehrgeizig, intrigant, fast Abenteurerin – das war die eine Stimme, die Meinung der Finanzwelt, die sie einer höheren Bestimmung zuliebe verlassen hatte, aber in den Augen des Faubourg und der königlichen Familie, die sie erobert hatte als ein Wesen von besonderen Geistesgaben, erschien sie als Engel von Güte und Tugend. Übrigens hatte sie ihre alten Freunde aus der niederen Sphäre nicht vergessen, sie erinnerte sich ihrer, besonders wenn sie krank waren oder Trauer hatten, denn das waren rührende Angelegenheiten und betrübende Umstände, angesichts deren man nicht in die Gesellschaft geht und sich daher nicht beklagen kann, nicht eingeladen zu werden. Daher ihre Neigung zu Ausbrüchen der Nächstenliebe. In Unterredungen mit Anverwandten oder Priestern am Bette der Sterbenden konnte sie Tränen vergießen, und so tötete sie einen Gewissensbiß nach dem anderen, den ihre doch allzu leichte Lebensführung ihrem nicht ganz skrupellosen Herzen versetzte.
    Aber der reizendste Tischgast war die junge Herzogin von D., deren beweglicher, klarer, aber nie unruhiger Geist so sonderbar mit dem unheilbar schwermütigen Ausdruck ihrer schönen Augen und dem Pessimismus ihrer Lippen kontrastierte, mit der grenzenlosen, edlen Müdigkeit ihrer Hände. Diese liebte mit allen Fasern das Leben in allen seinen Formen, Güte, Literatur, tätiges Dasein, Freundschaft. Nun nagte sie, als seien es mißachtete Blumen, an ihren schönen, roten Lippen, ohne sie welk zu machen, während ein entzaubertes Lächeln die Winkel leicht schürzte. Wie viele Menschen schon haben auf der Straße, im Theater, im Vorübergehen ihren Traum an diesen wechselvollen Sternen entzündet! Nun war die Herzogin wohl dabei, sich eines Vaudevilles zu entsinnen oder eine Toilette zu entwerfen, jedenfalls zog sie mit dem Ausdruck von Nachdenken und Resignation unaufhörlich an ihren edlen Fingergliedern und ließ ihre verzweifelten, tiefen Blicke im Kreise schweifen, bis sie alle feiner empfindenden Tischgenossen unter einen Gießbach von Melancholie getaucht hatte. Ihre erlesene Unterhaltung schmückte sich nachlässig mit dem verblichenen und doch so charmant skeptischen Spott früherer Zeit. Man stand gerade in einer Diskussion, und die Dame, die so sicher im Leben stand und die nur eine Art kannte, sich zu kleiden, wiederholte allen: »Ach, warum sollte man nicht alles sagen, alles denken können? Ich kann recht haben und Sie ebenso. Es ist doch schrecklich und pedantisch, nur eine Ansicht zu haben.« Ihr Geist war nicht wie ihr Körper nach der letzten Mode gekleidet, und sie ironisierte sanft die Symbolisten und die kirchlich Gläubigen. Es war mit ihrem Geist wie mit bezaubernden Frauen, die schön und lebhaft genug sind, um auch in alten Kleidern zu gefallen. Übrigens war das ebensogut beabsichtigte Koketterie. Gewisse radikale Ideen hätten ihren Geist ruiniert so wie gewisse Farben ihren Teint, dem sie verboten waren.
    Seinem hübschen Nachbar hatte Honoré von diesen verschiedenen Gestalten einen schnellen und in so hohem Maße wohlwollenden Umriß gegeben, daß alle trotz ihrer starken Verschiedenheit einander glichen, die brillante Frau von Torreno der geistvollen Herzogin von D. und

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