Tage der Freuden
zur Beruhigung ihres Denkens auf Kosten ihrer instinktiven Natur. Heute geschieht es zur Beruhigung der instinktiven Natur auf Kosten der Moral – das heißt soviel, auf Kosten ihrer nur in der Theorie bestehenden Unmoral (siehe die Dramen von Halévy und Mailhac). Alle Bande der Moral und der gesellschaftlichen Gesetze sind bis aufs äußerste gelockert, die Frauen schwanken verzweifelt zwischen dieser theoretischen Unmoral und einer instinktiven Güte. Was sie suchen, ist nur die Wollust, aber die findet man nur, wenn man nicht sucht, wenn man sich ganz dem ursprünglich Quellenden hingibt. Dieser Skeptizismus, dieser Dilettantismus würde in einem Buche ebenso störend wirken wie eine Mode außer Mode. Aber die Frauen sind alles andere eher als Zukunftsprediger von Mode und Geist, vielmehr sind sie verspätete Nachzügler und Nachbeter. Heute gefällt ihnen noch der Dilletantismus, und er paßt ihnen. Wenn er auch ihr Urteil trübt, wenn er ihr Benehmen entnervt, man kann doch nicht leugnen, daß er ihnen eine etwas angeschmutzte, aber noch liebenswerte Anmut verleiht. So lassen sie uns bis zur Wonne fühlen, was an Leichtigkeit und Süße eine überraffinierte Zivilisation noch bieten kann. Da gibt es einen ewigen Aufbruch nach Cythere, wo die Feste weniger mit aufgerührten Sinnen als in der Phantasie gefeiert werden. Das Herz, der Geist, Augen, Nase, Ohren, alles bringt einen Hauch von Wollust in ihre Attitüden. Wer diese Zeit gut schildern will, muß sie – wenigstens ist das mein Gefühl – ohne rechte Anspannung, ohne Rückgrat zeichnen. Diesem Leben entströmt der sanfte Duft aufgelöster Frisuren …
Der Ehrgeiz berauscht mehr als der Ruhm. Die Sehnsucht läßt alle Dinge blühen, der Besitz zieht alle Dinge in den Staub. Besser, sein Leben träumen als es leben. Mag immerhin auch noch im Leben so viel Traum enthalten sein, nur weniger geheimnisvoll und zugleich auch weniger klar, mag sich auch im Leben ein undurchsichtiger, schwerer Traum abspiegeln, ähnlich dem zerstreuten Traume in dem dumpfen Bewußtsein wiederkäuender Tiere. Schöner sind die Stücke von Shakespeare vom Arbeitszimmer aus gesehen, als auf dem Theater dargestellt. Die Dichter, welche Frauengestalten unvergänglicher Liebe geschaffen haben, haben oft nur mittelmäßige Dienerinnen in Gasthöfen gekannt, und im Gegensatz dazu haben die umworbensten Wollüstlinge nicht einmal die Fähigkeit, das Leben zu begreifen, das sie selbst führen oder das vielmehr sie führt. – Ich habe einen kleinen zehnjährigen Jungen gekannt, der hatte eine zarte Gesundheit und eine frühreife Einbildungskraft, und dieser Knabe hatte einem etwas älteren Mädchen eine reine Geistesliebe geweiht. Stundenlang verweilte er am Fenster, um es vorübergehen zu sehen, weinte, wenn er es nicht sah, weinte noch mehr, wenn er es gesehen hatte. Sehr kurze Zeit und sehr selten verweilte er an der Seite des Mädchens. Er schlief nicht mehr, aß nicht mehr. Eines Tages warf er sich aus dem Fenster. Man dachte im Anfang, die Verzweiflung darüber, sich seiner Freundin nicht nähern zu können, habe ihn in den Tod getrieben. Man erfuhr aber, daß er (gerade umgekehrt) sehr lange mit ihr gesprochen hatte, und sie hatte sich außerordentlich liebenswürdig gegen ihn gezeigt. So nahm man denn an, daß er auf die grauen Tage verzichten wollte, die ihm noch zu leben blieben nach dieser Zeit einer Trunkenheit, die er möglicherweise nicht mehr erneuern konnte. Zahlreiche Geständnisse, die er seinerzeit einem seiner Freunde gemacht hatte, ergaben den Einblick, daß er jedesmal eine Enttäuschung empfunden hatte, sooft er die Königin seiner Träume sah – aber kaum war sie fort, so gab seine fruchtbare Phantasie ihre ganze Macht dem kleinen fernen Mädchen, und er sehnte sich nach ihm. Jedesmal versuchte er seine Enttäuschung auf die ungünstigen Nebenumstände des jeweiligen Zusammenseins zurückzuführen. Nach jener letzten Zusammenkunft, bei der er, kraft seiner bereits gelehrig gewordenen Phantasie, seine Freundin auf den höchsten Gipfel der Vollendung geführt hatte, deren sein inneres Wesen fähig war, maß er verzweifelnd diese halbe Vollendung an der ganzen, worin er lebte und an der er starb, und er stürzte sich aus dem Fenster.
Sodann ward er zum Idioten, lebte noch lange: Von seinem Stürze rührte eine Wandlung her, die ihn seine Seele vergessen ließ, sein Denken, seine Sprache, seine Freundin, die er wiedersah, ohne sie zu erkennen. Sie aber heiratete ihn
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